Neandertaler mit Fackel in Höhle
Die Wissenschaft konnte unser Bild vom Neandertaler in den vergangenen Jahrzehnten beachtlich erhellen.
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Elena Essel ist eine Zeitreisende. Im Reinraumlabor sitzt bei der 31-jährigen Forscherin jeder Handgriff, der Ablauf wird genau und konzentriert eingehalten. Sie baut keine Zeitmaschine, sondern bereitet uralte DNA vor. Es gibt für die Erbgutexpertin aber nichts, was dermaßen nah an Zeitreisen herankommt: Spuren längst verstorbener Menschen öffnen ein winziges Fenster in die Vergangenheit.

Als die deutsche Molekularbiologin begann, am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig zu arbeiten, war sie nicht besonders interessiert an Neandertalern und dem frühen Homo sapiens. Ihr ging es um die Methoden. Die ältesten DNA-Nachweise kommen auf zwei Millionen Jahre und stammen von Rentieren, Hasen und verschiedenen Bäumen in Grönland. Geht es um Menschen, sind die Rekordhalter rund 400.000 Jahre alte Neandertaler-Proben aus der spanischen "Knochengrube", der Sima de los Huesos. Geht da noch mehr? Wie kann man noch bessere Daten gewinnen? Bei diesen Fragen hat Essel dann doch die Begeisterung für die Entwicklung der Menschheit gepackt.

Molekularbiologin Elena Essel
Die deutsche Molekularbiologin Elena Essel entwickelt mit Kolleginnen und Kollegen revolutionäre Methoden, um mehr über die Menschheitsgeschichte zu erfahren.
MPI-EVA

Vor einem Jahr hat sie zu einem gewaltigen Meilenstein beigetragen: Erstmals war es gelungen, menschliche DNA von der Oberfläche eines prähistorischen Artefakts zu gewinnen. Ein gut 20.000 Jahre alter Schmuckanhänger aus Hirschzahn enthüllte, dass es eine Frau war, die den Anhänger trug oder herstellte (oder beides). Wer ein Objekt herstellte, lässt sich ansonsten kaum herausfinden, selbst bei Grabbeigaben ist unsicher, ob ein Talisman von einer Bestatteten getragen wurde. Wenn jemand aber ausreichend DNA daran hinterlassen hat, spricht das dafür, dass diese Person zumindest viel Zeit mit dem Artefakt verbrachte. Essel war Erstautorin der Studie, die im renommierten Fachmagazin "Nature" erschien (DER STANDARD berichtete) und an der auch der Nobelpreisträger Svante Pääbo beteiligt war. Die elegante Methode, um an die DNA der Person zu kommen, entwickelte sie maßgeblich mit.

Wie funktioniert es nun, dass Fachleute jahrtausendealten Knochen und Zähnen ablesbares Erbgut abringen? Eine gute Grundlage liefert ein Stück Knochen oder Zahn. Das darin enthaltene Mineral macht sie nicht nur hart, sondern kann die Erbsubstanz über Jahrtausende hinweg konservieren. Dann wird die uralte DNA ("ancient DNA" oder aDNA) herausgelöst, von Fremdstoffen befreit und quasi in ein Format konvertiert, das ausgelesen werden kann. Der genetische Code erscheint auf dem Bildschirm. Durch Vergleiche mit anderen Proben kann man herausfinden, welche Gene diese Sequenzen repräsentieren und wie sie die Proteinmaschinen in den Körperzellen beeinflussen.

DNA aus der Waschmaschine

Normalerweise musste man die Knochen bisher per Zahnarztbohrer oder ähnlichen Werkzeugen teils zerstören, um im Knochenstaub an DNA heranzukommen. Daher bekommen Forschungsgruppen oft gar nicht die Erlaubnis, solche Proben zu entnehmen. Das gilt vor allem für Artefakte aus der Steinzeit, weil die Art der Bearbeitung viel über die Technik verrät und man daher keine Informationen verlieren will.

Dank Essels Methode geht das aber viel behutsamer. Das Artefakt landet in einer Art "Knochenwaschmaschine", wie die Biologin sagt: Mit einer Pufferlösung wird DNA herausgewaschen. Schrittweise erhitzt man die Flüssigkeit von Raumtemperatur auf bis zu 90 Grad Celsius. "Ähnlich wie in der Waschmaschine kommen die tiefsitzenden Flecken erst bei hohen Temperaturen heraus."

Zahnanhänger
Dieser mehr als 20.000 Jahre alte Hirschzahnanhänger aus Sibirien enthielt noch DNA der Trägerin oder Produzentin.

Wer es noch ein wenig genauer wissen mag: Dahinter steckt das Prinzip der Elektrostatik. Das negativ geladene Rückgrat der DNA, die Phosphate, und das positiv geladene Kalzium in Knochen und Zähnen ziehen einander an. Die Forscherinnen verwenden nun eine Pufferlösung mit großen Mengen freiem Phosphat, das mit der DNA um die Bindung an Kalzium konkurriert, erklärt Essel. "So kann man die DNA aus dem Knochenmaterial rauskicken." Sie ist dann nicht mehr an den Knochen gebunden, sondern schwimmt in der Lösung. Anschließend kann man mit molekularbiologischen Werkzeugen die DNA im "Waschwasser" isolieren und mit ihr arbeiten.

Das gelang bei dem Hirschzahnschmuck aus der Denisova-Höhle in Sibirien zum ersten Mal. Die Fundstätte ist vor allem bekannt dafür, dass dort eine Menschenform lebte, von deren Existenz die Forschung erst seit kurzem weiß: der Denisova-Mensch. Auf dessen Spuren kamen Forscherinnen und Forscher allein anhand genetischer Daten. Er lebte gleichzeitig mit Neandertalern und modernen Menschen. Die Gruppen lebten über lange Zeit relativ isoliert, waren einander jedoch so ähnlich, dass sie miteinander Nachkommen zeugten, wenn sie einander doch begegneten – je nach Ausbreitungsgebiet und Klimasituation. Deshalb spricht man weniger von unabhängigen Menschenarten als von Menschenformen oder -typen. Neben Neandertalern und Denisovanern könnte es weitere Menschenformen gegeben haben, von denen wir bisher nichts wissen. Alle heute lebenden Menschen zählen zur Form "moderner Mensch".

Höhleneingang Denisova-Höhle
Die entlegene Denisova-Höhle in Russland ist durch die spektakulären Funde weltbekannt geworden.
Richard G. Roberts

Über die Ergebnisse der neuen Methode hat sich Essel "wahnsinnig gefreut". Sie hat nicht nur nachgewiesen, dass Objekte ohne Bohrung genutzt werden können, um Erbmaterial zu entnehmen, sondern auch, dass die DNA der Benutzerin des Artefakts über 20.000 Jahre darin erhalten blieb.

Stresstest in heißem Klima

So perfekt klappt das freilich nicht mit jeder Probe. Stammt sie aus einer warmen Region, ist es wahrscheinlich, dass die andauernde Hitze die DNA in so kleine Bruchstücke zerteilt hat, dass diese kaum auffindbar sind. Anders wirkt das heiße Waschen im Labor, erklärt die Molekularbiologin. Erstens geschieht das nur für kurze Zeit. Und zweitens wird im Labor zwar der Doppelstrang der DNA aufgetrennt, aber es werden keine zusätzlichen Bruchstellen produziert. So kann man die genetischen Informationen beim Sequenzieren trotzdem ablesen.

Daher stehen die Chancen bei Proben aus dem sibirischen Permafrost viel besser als bei solchen aus der Wiege der Menschheit in Südafrika – sofern ein Fossil die Zeit nicht gerade an einem besonders geschützten Ort überdauern konnte. Das kommt zum Glück dennoch manchmal vor. Andersherum können auch gute Bedingungen nicht garantieren, dass ausreichend hochwertige DNA übrig geblieben ist, ob nun in oder auf einem Knochen. Steinwerkzeuge eignen sich wegen der glatten Oberfläche weniger, Reste von Schweiß, Speichel oder Blut bleiben darauf kaum zurück.

Abgeleckte Proben

Auch die Finderinnen und Finder können wertvolle Proben zerstören. Zum Beispiel, indem sie sie mit ihren eigenen Spuren verunreinigen. Heute hat man ein ganz anderes Bewusstsein dafür, uralte Artefakte zu händeln, als in den vergangenen Jahrzehnten. Während bei Grabungen früher manchmal Objekte abgeleckt wurden, um schneller zu erkennen, ob es sich um Stein oder Knochen handelt, wäre das heute ein schwerer Fauxpas. Im besten Fall trägt man Handschuhe.

Forschungsteam arbeitet in russischer Denisova-Höhle
Forschung in der Denisova-Höhle 2019. Selbst aus Umweltproben kann man heute DNA gewinnen.
Sergey Zelensky

Um auch aus winzigen Proben Informationen zu gewinnen, wird versucht, die DNA zu vervielfältigen. Das funktioniert unter anderem über eine Methode, die während der Corona-Pandemie in aller Munde war: die PCR oder Polymerase-Kettenreaktion. "Damit machen wir die DNA sozusagen unsterblich, indem wir nicht mehr nur ein oder zwei Kopien von dem DNA-Molekül haben, sondern Millionen von Kopien", erklärt Essel. Schließlich muss noch sortiert werden, ob die Erbgutschnipsel von prähistorischen Menschen stammen, von Pilzen und Bakterien, die sich dort angesiedelt haben, oder zum Beispiel von einem Archäologen. Dafür werden gewissermaßen bekannte Stücke menschlicher DNA als Magnet genutzt, um passende Teile herauszufischen.

Erbe mit Risiko

Ob es nun Schweiß oder Speichel war, der die DNA in das Artefakt brachte, lässt sich meist nicht nachvollziehen. In manchen Fällen wäre das aber möglich, sagt Essel. "Wenn man besonders viele Mundbakterien finden würde, könnte man vielleicht sagen: Das war ein steinzeitlicher Schnuller." Und weil die meisten Proben klein sind, lässt sich oft nicht viel mehr ablesen als das Geschlecht und etwaige Verwandtschaftsverhältnisse. Es gibt aber auch nahezu vollständige Neandertaler-Genome, die verraten, ob ein Individuum genetisch bedingte Voraussetzungen für ein bestimmtes Aussehen – etwa Augen- und Haarfarbe – hatte. Oder ein höheres Risiko für gewisse Krankheiten.

Bisherige Indizien zeigen, dass bestimmte Genvarianten der Neandertaler eine Rolle bei Depressionen und Suchtverhalten spielen und Diabetes Typ 2 begünstigen. Die meisten heute lebenden Europäerinnen und Europäer tragen ein bis zwei Prozent Neandertaler-DNA in sich – man könnte also argumentieren, diese Menschenform ist gar nicht ausgestorben. Dabei sind aber auch solche unpraktischen Gene erhalten geblieben. Man kann sich fragen: Warum sind diese Genvarianten nicht der Evolution zum Opfer gefallen?

Grafische Illustration der Forschung am Anhänger
Detektivarbeit: Aus einem prähistorischen Anhänger ließen sich DNA-Spuren gewinnen, wie diese Illustration zeigt.
Merlin Szymanski

Der schwedische Paläogenetiker und Medizinnobelpreisträger Svante Pääbo beantwortet diese Frage so: "Wenn wir heute unser ganzes Leben lang beinahe zu viel essen, könnten solche genetischen Varianten in der Vergangenheit, als man gehungert hat, von Vorteil gewesen sein." Das genetische Energiesparprogramm wäre für ein Leben im Überfluss also eine eher schlechte Anpassung. Wie so oft geht es eben nicht nur um die Gene, sondern auch um die Umwelt.

Zukunft der DNA-Forschung

Ein wichtiger technischer Fortschritt war das sogenannte Next Generation Sequencing, mit dem das ganze Genom viel einfacher abgelesen werden kann. Die Techniken werden immer günstiger, auch deshalb kann man heute viel mehr Proben analysieren und absuchen als noch vor ein paar Jahren. Im Labor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie sind das etwa 10.000 Proben pro Jahr, erzählt Essel. So ist es mittlerweile auch möglich, DNA aus Sedimenten zu gewinnen und dort nach menschlichen Spuren zu fahnden, statt dezidiert Knochen zu benötigen, die nicht überall vorkommen.

Ein Gamechanger, sagt die Forscherin: Je nach Sedimentschicht mit einem bestimmten Alter könne man nun viel detaillierter die Besiedlungsgeschichte einer Höhle untersuchen. Vor allem Übergangsschichten seien spannend, wenn sich in einem Bereich typische Neandertaler-Techniken fänden und darüber Artefakte mit der "Signatur" des modernen Menschen. "In manchen Höhlen findet man auch eine Sandwichsituation, bei der man sich fragt: Gab es dort zwei verschiedene Populationen von Neandertalern? Kommt das durch geologische Prozesse wie Umfaltungen von Erdschichten zustande?"

Arbeit mit Handschuhen, Mundschutz und Schild im bläulichen Licht des Reinlabors
Elena Essels Kollege Matthias Meyer bei der Arbeit im Reinlabor.
MPI-EVA

Der nächste Boom hat sich aber nicht in Sachen DNA abgezeichnet, sondern bei Proteinen, da diese langlebiger sind. Bisher können daraus zwar noch nicht so detailreiche Informationen gewonnen werden, "aber man kann schon sagen, das hier ist ein menschlicher Knochen, das da ist ein anderes Tier", sagt Essel. Hier dürften in den kommenden Jahren spannende Entwicklungen anstehen.

Der Neandertaler in uns

Mittlerweile weiß man, dass uns Neandertalerinnen und Neandertaler nicht nur genetisch sehr ähnlich waren. Sie stellten ausgefeilte Steinwerkzeuge und Schmuck aus Zähnen und Muscheln her, konnten sprechen, jagen, Feuer machen, trugen Kleidung und hinterließen zumindest abstrakte Höhlenmalereien. Vielleicht bastelten sie sogar Musikinstrumente wie Knochenflöten und bestatteten ihre Toten. Weshalb sie vor etwa 40.000 Jahren ausgestorben sind, ist eines der großen Rätsel der Anthropologie, die wohl nie mit Sicherheit gelöst werden können. Es gibt Vermutungen, von etwas schlechterer Leistungsfähigkeit bis hin zu Infektionskrankheiten des modernen Menschen oder zu kleinen Neandertaler-Populationen.

Ein neues Puzzleteil lieferte kürzlich eine aufsehenerregende Studie, an der Essel beteiligt war (hier der ausführlichere Bericht). Sie zeigte, dass Homo sapiens schon früher als gedacht nach Zentraleuropa kam. Dort könnte der moderne Mensch vor etwa 45.000 Jahren demnach zeitgleich mit Neandertaler-Gruppen gelebt haben. Wenn die beiden Menschentypen über Jahrtausende koexistierten, spricht das eher gegen eine "feindliche Übernahme", und von dieser Theorie gehen in der Fachwelt mittlerweile nur noch wenige aus, sagt Essel. "Neandertaler und moderne Menschen haben sich wohl eher vermischt und sich vielleicht gar nicht als verschiedene Populationen wahrgenommen."

Trotzdem haben viele ein anderes Bild von Neandertalern im Kopf. Man stellt ihn sich vor "wie unser dummer Cousin, ein bisschen plump und stumpf, nicht der Hellste", fasst die Biologin zusammen. Wie würden wir mit ihnen umgehen, wenn sie heute noch leben würden? "Wenn man sich die Welt jetzt anguckt, sind wir uns ja unter den Menschen schon nicht ganz einig", gibt Essel zu bedenken. Vielleicht wären auch sie einer Art Rassismus ausgesetzt. "In Zeiten von Populismus und einem gewissen Rechtsruck in Europa weiß ich nicht, wie hoffnungsvoll ich für Neandertaler in unserer Gesellschaft wäre." (Julia Sica, 21.2.2024)