Person in Rollstuhl vor Rolltreppe
Manche kranken Menschen stehen finanziell an: Trotz Sozialversicherung gibt es genug aus eigener Tasche zu bezahlen.
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Lange Wartezeiten auf Untersuchungen, verschobene Operationen, wegen Personalmangels geschlossene Spitalstationen, Warnungen von Ärzten und Pflegekräften vor einer Gefährdung der Patienten: Durch die Medien geistern genug Meldungen, um dem öffentlichen Gesundheitssystem zu misstrauen – und laut Umfragen tun das auch immer mehr Menschen.

Bietet Österreich noch eine verlässliche Versorgung, die nicht vom Einkommen abhängt? Oder müssen die Bürgerinnen und Bürger immer mehr in die eigene Tasche greifen, weil die aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen bezahlten Leistungen nicht mehr genügen?

Das Institut für Höhere Studien (IHS) ist dieser Kernfrage in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nachgegangen. Grundlage der Studie ist die von der Statistik Austria alle fünf Jahre durchgeführte Konsumerhebung. Dabei führen Haushalte – bei der letzten Runde waren es 7.139 – zwei Wochen lang Buch über ihre Ausgaben.

Stetige Verschärfung

Es ist ein beunruhigender Trend, der sich aus der IHS-Analyse herauslesen lässt: Immer mehr Menschen geraten in finanzielle Nöte, weil sie für ihre Gesundheit Geld aus der eigenen Tasche ausgeben müssen. Waren es bei der Erhebung von 2004/05 noch 1,4 Prozent der Haushalte, die aufgrund von privaten Gesundheitsausgaben von Armut gefährdet oder (weiter) verarmt waren, kletterte der Anteil in den folgenden 15 Jahren stetig auf 2,8 Prozent empor. Mit etwaigen Corona-Folgen sei das nicht zu erklären, betont IHS-Forscher Thomas Czypionka, denn die Daten stammen noch aus der Zeit vor Ausbruch der Pandemie.

Der Standard

Anderer Indikator, ähnliches Bild: Auch der Anteil der Haushalte mit "ruinösen" Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche ist angewachsen, und zwar von 2,3 Prozent (2004/05) auf 3,6 Prozent (2019/20). Umfasst werden dabei Fälle, in denen die entsprechenden Aufwendungen mehr als 40 Prozent des Haushaltseinkommens ausmachen. In dieser Gruppe finden sich ebenso Betroffene aus höheren Einkommensschichten, der größte Teil stammt aber aus dem ärmsten Fünftel.

Viele Kostentreiber

Was so stark ins Geld geht? Über alle Haushalte gerechnet entfällt der größte Brocken privater Gesundheitsausgaben auf zahnmedizinische Versorgung, bei der die Krankenversicherung bekanntlich nicht alle (gewünschten) Leistungen bezahlt. Auch Arzneimittel, für die es eine Rezeptgebühr zu berappen gibt, und mit Selbstbehalten versehene Medizinprodukte – vom Rollstuhl über Prothesen und Schuheinlagen bis hin zu Kontaktlinsen – schlagen sich stark nieder.

Nicht auf alle Ursachen dieser "schleichenden Verschlechterung" (Czypionka) hat die Politik direkt Einfluss. Ein Treiber ist die steigende Lebenserwartung, die den Bedarf an Gesundheitsleistungen anschwellen lässt. Auch das Bevölkerungswachstum gepaart mit der Zuwanderung von Menschen, die versorgungsmäßig oftmals Nachholbedarf haben, brächten das System zunehmend an die Kapazitätsgrenzen. Das führe etwa dazu, dass sich Patienten zum Ausweichen auf private Anbieter gezwungen srhen – weil sie etwa auf eine Magnetresonanztomografie nicht ewig warten wollen.

Die bekannten Unzulänglichkeiten im System würden das Problem weiter verschärfen, analysiert Czypionka, und dann machten sich noch die Nebeneffekte des technologisches Fortschritts bemerkbar. Behandlungen sind zwar erfolgreicher, aber auch aufwendiger – was Einrichtungen noch weiter überlaste. Außerdem bedeute ein höherer Standard mitunter mehr Kosten für die Patienten: "Ein modernen Rollstuhl kann viel mehr als früher. Doch mit dem Preis steigt auch der Selbstbehalt."

Deckelung für Selbstbehalte

Um nicht zu dramatisieren, bedarf es einer Anmerkung: Im internationalen Vergleich steht Österreich in Sachen finanzieller Absicherung immer noch recht gut da. Nach dem Kriterium der Verarmung durch private Gesundheitsausgaben liegt die Republik an zehntbester Stelle unter 40 verglichenen europäischen Staaten. An der Spitze liegen in diesem Ranking die Niederlande.

Trotz des vergleichsweise hohen Niveaus gelte es dem unerfreulichen Trend entgegenzutreten, sagt Czypionka. Abgesehen von der allgemeinen Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesen, schlägt er einen konkreten Schritt vor: Wie bei der Rezeptgebühr, die mit zwei Prozent des Nettoeinkommens begrenzt ist, brauche es für alle anderen Selbstbehalte – so eben auch für Heilbehelfe – ebenfalls eine Deckelung. Derzeit würden bestimmte Gruppen massiv belastet, die für ihr Schicksal nichts könnten, sagt der Fachmann. Man denke etwa an Multiple-Sklerose-Patienten, die von Mobilitätshilfen angefangen alle möglichen teuren Produkte benötigen.

Von allein umkehren werde sich die Entwicklung nicht, fügt Czypionka an – im Gegenteil. Denn die Schwierigkeiten würden zunehmen: Bei der nächsten Untersuchung dürfte die Situation wohl noch etwas schlechter aussehen. (Gerald John, 19.2.2024)