Buntes Bild einer Gehirnstruktur
Das Gehirn hat kein Geschlecht, sind sich Wissenschafterinnen und Wissenschafter mittlerweile einig. Viele Vorgänge sind jedoch nach wie vor unklar.
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Es wäre kein Mythos, wenn er sich nicht so hartnäckig halten würde: nämlich dass sich männliche grundlegend von weiblichen Gehirnen unterscheiden ließen. Kein Wunder, haben sich doch Generationen an Hirnforschern daran abgearbeitet, Geschlechterdifferenzen zu suchen und sie mit "typischen" Verhaltensweisen in Verbindung zu bringen. Populäre Annahmen, was geschlechtsspezifische Vorteile in Sachen Multitasking, räumliches Denken, Zuhören, Einparken oder naturwissenschaftliche Fähigkeiten betrifft, haben sich tief ins kollektive Bewusstsein gebrannt.

Und doch hat die Forschung bisher keine eindeutigen biologischen Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen zutage gebracht, wie etwa die britische Neurowissenschafterin Gina Rippon immer wieder dargelegt hat, unter anderem in ihrem Buch "The Gendered Brain". Die Neuroimaging-Forschung fokussiere noch immer zu sehr auf Gehirnstrukturen, sagt Rippon. Doch etwa von der Größe verschiedener Strukturen auf bestimmte Funktionen zu schließen, sei unzulässig. Kritisiert wurde in der Vergangenheit auch oft die Methodik von Studien, die sich meist auf bildgebende Verfahren und die Gehirnaktivität beim Lösen bestimmter, oft sozial trainierter Aufgaben stützen. Übersehen wurde häufig, dass Gehirne aufgrund ihrer Plastizität individuell betrachtet werden müssen und sich im Gehirn, dessen Komplexität die Wissenschaft noch vor große Rätsel stellt, auch gesellschaftliche und Umweltfaktoren spiegeln. Vergangene Studien haben jedenfalls gezeigt: Je größer die Datenbasis, desto kleiner werden Geschlechterdifferenzen.

Nun haben Forschende der Medizinischen Universität Stanford in Kalifornien ein Modell vorgelegt, das die Kontroverse erneut entfachen könnte. Sie entwickelten ein Künstliches-Intelligenz-System, das in mehr als 90 Prozent der Fälle feststellen konnte, ob ein Scan von der Gehirnaktivität eines Mannes oder einer Frau stammte. Zu den "Hotspots", die dem Modell dabei halfen, männliche Gehirne von weiblichen zu unterscheiden, gehören das Default-Mode-Network oder Ruhezustandsnetzwerk, ein Gehirnsystem, das aktiv ist, wenn wir den Gedanken freien Lauf lassen und das uns hilft, auf uns selbst bezogene Informationen zu verarbeiten, sowie das Striatum und das limbische Netzwerk, die beim Lernen und bei der Reaktion auf Belohnungen eine Rolle spielen. All diese Bereiche sind auch bei Krankheiten wie Autismus, ADHS, Depressionen und Parkinson involviert.

Krankheiten besser verstehen

"Eine der Hauptmotivationen für diese Studie ist, dass das Geschlecht eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des menschlichen Gehirns, beim Altern und bei der Manifestation psychiatrischer und neurologischer Krankheiten spielt", sagt Vinod Menon, Leiter des Stanford Cognitive and Systems Neuroscience Laboratory und Hauptautor der im Fachblatt "PNAS" veröffentlichten Studie. "Die Identifizierung konsistenter und reproduzierbarer geschlechtsspezifischer Unterschiede im gesunden erwachsenen Gehirn ist ein entscheidender Schritt hin zu einem tieferen Verständnis geschlechtsspezifischer Anfälligkeiten bei psychiatrischen und neurologischen Krankheiten."

Für ihre Arbeit nutzten Menon und sein Team mehrere große Datensätze, um ein sogenanntes Deep-Neural-Network-Modell zu entwickeln. Dieses lernte, die Daten aus dynamischen MRT-Scans zu klassifizieren, die das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Gehirnregionen abbilden. Die Forscher legten offen, ob es sich um ein männliches oder weibliches Gehirn handelte, bis das System zu erkennen begann, welche subtilen Muster auf Geschlechterunterschiede hinwiesen. Als das Modell an 1.500 Gehirnscans von 20- bis 35-jährigen Personen aus den USA und Europa getestet wurde, lag es in mehr als 90 Prozent der Fälle richtig, heißt es vonseiten der Stanford Medicine. Der Erfolg des Modells deute darauf hin, dass es im Gehirn tatsächlich nachweisbare Geschlechtsunterschiede gebe, die bisher nur nicht zuverlässig erkannt wurden. "Dies ist ein sehr starker Beweis dafür, dass das Geschlecht eine robuste Determinante der menschlichen Gehirnorganisation ist", sagt Menon.

Übersehene Unterschiede

Zugleich weisen die Forschenden darauf hin, dass ihre Arbeit nichts darüber aussage, ob geschlechtsspezifische Unterschiede schon früh im Leben auftreten oder durch hormonelle Unterschiede oder unterschiedliche gesellschaftliche Umstände, denen Männer und Frauen eher ausgesetzt sind, bedingt sein könnten. Es sei bekannt, dass die Geschlechtschromosomen den Hormoncocktail bestimmen, der unsere Gehirne insbesondere in der frühkindlichen Entwicklung, in der Pubertät und bei der Alterung beeinflusst. Das Geschlecht mit bestimmten Gehirnunterschieden in Verbindung zu bringen, sei aber bisher fehlgeschlagen, ebenso wie Forschung zu Differenzen bei der Zusammenarbeit von Gehirnregionen, räumt das Forschungsteam ein. "Gehirnstrukturen sehen in der Regel bei Männern und Frauen gleich aus", heißt es.

Dennoch sieht Menons Team entscheidende Vorteile in seinem Modell, das im Gegensatz zu herkömmlichen KI-Systemen auf sogenannter erklärbarer KI basiert. Dadurch wird nachvollziehbar, wie die Entscheidungen eines Modells zustande kommen. In der Folge testete das Forschungsteam geschlechtsspezifische Modelle, welche die kognitiven Fähigkeiten entweder von Männern oder von Frauen beim Lösen bestimmter Aufgaben vorhersagen sollten. "Diese Modelle haben sehr gut funktioniert, weil wir die Gehirnmuster erfolgreich zwischen den Geschlechtern getrennt haben", sagte Menon. "Das sagt mir, dass das Übersehen von Geschlechtsunterschieden in der Gehirnorganisation dazu führen könnte, dass wir Schlüsselfaktoren übersehen, die neuropsychiatrischen Störungen zugrunde liegen." Das KI-System könne breit angewandt werden, sagt Menon, etwa um nach Unterschieden im Gehirn zu suchen, die mit Lernschwächen oder sozialem Verhalten zusammenhängen.

Psychosoziale Faktoren

"Sicher ist, dass die Geschlechtschromosomen und Sexualhormone auf die Gehirnentwicklung und Verarbeitungsprozesse einen Einfluss haben, der aber bei vergleichbarem Training und Erfahrung zu vergleichbaren Ergebnissen führt", sagt Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien, in einer ersten Einschätzung der Studie. Das Risiko für bestimmte neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen sei deutlich geschlechtsabhängig, sagt Kautzky-Willer, "auch wenn auch hier ein gewisser Bias bestehen dürfte, da die Diagnose auch aufgrund unterschiedlicher Symptome oft bei einem Geschlecht weniger oft gestellt wird", wie etwa im Fall von Depression bei Männern oder ADHS bei Frauen. Darüber hinaus hätte nicht nur das biologische Geschlecht einen Einfluss, sondern auch die Genderidentität sowie psychosoziale Unterschiede, die veränderbar sind und auch von der jeweiligen Kultur und Generation abhängen.

Generell seien KI-Modelle mit Vorsicht zu behandeln, betont Kautzky-Willer: "Wenn die Ursprungsdaten nicht repräsentativ oder verzerrt sind, werden vermeintliche Unterschiede noch mehr verfestigt und könne zu einem noch größeren Bias beitragen." Es bleibt also noch abzuwarten, ob sich mit der Methode auch nachhaltig Geschlechterunterschiede im Gehirn nachweisen lassen können und ob sie neue Wege zur Erkennung und Behandlung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen bahnen kann. (Karin Krichmayr, 20.2.2024)