Odessa, Mitte Dezember 2023. An Orten, an denen Russlands Vernichtungskrieg seine Spuren hinterlassen hat, herrscht in der Hafenstadt am Schwarzen Meer kein Mangel. Auch wenn die meisten Drohnen und Raketen heute in ihrem Hinterland einschlagen, ist es ihr historisches Zentrum, in denen die Verwüstung, die sie bringen, am sichtbarsten zutage tritt. Von Bombenkratern gesäumte Hauptstraßen, in denen sich das Regenwasser sammelt. Mit Brettern vernagelte Fenster von Luxushotels, die ihren letzten Gast vor knapp zwei Jahren verabschiedet haben. Hörsäle und Klassenzimmer, die mangels Wärmeversorgung für Studierende und Lehrende geschlossen bleiben. In Trümmern liegende Schiffsterminals, über denen der Geruch von Verbranntem wabert. Es gibt aber auch noch andere Spuren, die der Krieg hier hinterlassen hat und die weniger offensichtlich sind. Sie reichen von verschwundenen Straßennamen und Statuen bis zu Denkmälern, deren Pfleger so viel Angst um sie hatten, dass sie sie abmontierten und in Sicherheit brachten.

Bis zum Beginn der Invasion der gesamten Ukraine schmückte eine aus schwarzem Stein gehauene Plakette das Haus Judenstraße 1, die der Form einer Mesusa nachempfunden war. Eine Mesusa ist eine mit Bibelversen beschriftete Pergamentrolle, die religiöse Juden an ihre Verpflichtungen gegenüber Gott erinnern soll. Angebracht worden war sie 2017, die Folge einer ungewöhnlichen Intervention. Nach dem Willen des Stadtrats hätte das Ende des 19. Jahrhunderts im Stil der damals populären Neorenaissance erbaute Haus einem jener so modernen wie gesichtslosen Luxuswohnungskomplexe weichen sollen, die es heute weitgehend umgeben.

Kampagne

Als die jüdische Gemeinde von Odessa davon erfuhr, starteten ihre Mitglieder eine Kampagne für seinen Erhalt, die ihre Kreise bis in die höchste Regierungsebene der Ukraine wie der von Israel ziehen sollte. An ihrem Ende stand eine Garantie der Stadt, es für alle Zeiten zu bewahren. Zur Enthüllung der Mesusa, die in der Folge an seiner Außenmauer angebracht wurde, reiste eigens der damalige israelische Kommunikationsminister Ayoob Kara in die Südukraine. Der Eifer, den die Regierung des damaligen wie heutigen israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu bei der Rettungsaktion an den Tag legte, kam nicht von ungefähr.

In der Judenstraße Nummer 1 von Odessa wuchs ein Mann auf, über den Arthur Koestler, nachdem er ihn 1924 bei einem Auftritt im Kursaal Wien, dem damals größten Konzerthaus Österreichs, live erlebt hatte, schrieb: "Kein anderer hatte die Fähigkeit, ein Publikum für drei Stunden in seinem Bann zu halten, ohne auch nur ein einziges Mal in die oratorische Trickkiste zu greifen. Die Macht seiner Rede lag einzig und allein in ihrer transparenten Klarheit und in der Schönheit ihrer Logik." Der Name des Redners war Ze'ev Jabotinsky.

Judenstraße 1 in Odessa.
Foto: Stimeder

"Eiserne Mauer"

Obwohl er seit über 80 Jahren tot ist, gibt es heute praktisch keinen Politiker des Likud-Blocks und seiner Satelliten, der sich nicht auf seine Lehren beruft. Jabotinskys Konterfei umrahmt Parteitage, Wahlkampfveranstaltungen, Demonstrationen. In der Knesset, dem israelischen Parlament, werden seine Worte von den Abgeordneten so regelmäßig wie ausführlich als Legitimation für eine harte Gangart gegenüber den Palästinensern herangezogen. Nicht ausschließlich, aber mit deutlicher Mehrheit von Repräsentanten der Rechten. Dieser schenkte er mit dem 1923 veröffentlichten Essay "Die Eiserne Mauer" ihre ideologische Grundlage, mit der Hadar (hebräisch für "Würde", "Pracht" oder "Ruhm") ihre politische Philosophie und mit der Jugendbewegung Betar ("Festung") eine Selbstverteidigungsorganisation, die als Nukleus von Israels Armee gilt.

Israels Premier Benjamin Netanjahu vor einem Porträt Jabotinskys.
IMAGO/Amos Ben Gershom/Israel Gp

Die Bandbreite, für die der Pate des revisionistischen Zionismus als Säulenheiliger gilt, bildet heute ein Vielfaches von der, die er zu Lebzeiten abdeckte. Sie reicht von säkularen, auf Ausgleich bedachten Konservativen über so machtbewusste wie ruchlose Pragmatiker bis zu religiös motivierten Extremisten, die am liebsten eine Atombombe auf Gaza werfen und das Westjordanland ethnisch säubern würden. Rechts davon, was einmal als politische Mitte galt, stellt die Instrumentalisierung Jabotinskys im heutigen Israel eines der wenigen Elemente dar, das ihre Fraktionen zusammen hält. Wenn nicht gar das einzige.

Überzeugter Anti-Utopist

In dem Staat, für dessen Existenz er kämpfte, dessen Gründung er aber nicht mehr erlebte – Jabotinsky starb 1940 im US-Bundesstaat New York mit 59 an einem Herzinfarkt –, sind es indes längst nicht mehr nur die Rechten, die ihm Tribut zollen. Nach keiner anderen Person sind im heutigen Israel mehr Straßen, Parks und Plätze benannt als nach dem "überzeugten Anti-Utopisten und eingeschworenen Demokraten", den ihn sein bekanntester Biograf Hillel Halkin nennt. Der israelisch-amerikanische Historiker, Übersetzer und Essayist veröffentlichte 2018 bei der Yale University Press das Buch "Jabotinsky: A Life", das seitdem als Standardwerk gilt.

Im Vergleich mit dem Schatten, den Jabotinsky und sein Schaffen bis heute von Haifa bis Eilat werfen, nimmt sich sein Erbe in der Stadt, in der er geboren wurde und aufwuchs, seltsam bescheiden aus. Eine nahe der ausgebombten Preobraschenska-Kathedrale im Zentrum von Odessa stehende, nach ihm benannte Privatschule mit Fokus auf Computertechnologie- und Hebräisch-Unterricht, ist seit Kriegsbeginn geschlossen. Seit dem Verschwinden der Mesusa in der Judenstraße Eins bildet das einzige sichtbare Andenken an Jabotinsky ein überdimensionales, von einer lokalen Künstlerin geschaffenes Wandgemälde, das die Mauer des Hauses Bazarna-Straße 33 ziert.

Jabotinsky-Wandgemälde auf der Mauer des Hauses Bazarna-Straße 33.
Foto: Stimeder

Geburt im Zarenreich

Hier, unweit des Hauptbahnhofs, wurde Vladimir Yevgenyevich Zhabotinsky 1880 geboren, als Kind einer weitgehend assimilierten, bürgerlichen Familie und Untertan des russischen Zaren Alexander II. Sein Vater, der als Getreidehändler arbeitete, starb, als er sechs Jahre alt war. Von diesem Zeitpunkt an musste seine Mutter die Familie allein durchbringen. Trotz schwieriger wirtschaftlicher Umstände sorgte sie dafür, dass ihr Sohn und ihre Tochter Tamara – deren älterer Bruder Myron war kurz nach Vladimirs Geburt an Scharlach gestorben – die bestmögliche Schulbildung bekamen.

Der junge Jabotinsky verfolgte indes andere Pläne. "Fleißige Schüler – die, die immer ihre Hausaufgaben gemacht haben – habe ich gehasst. Die einzigen, die ich jemals geliebt habe, waren die Unruhestifter", schrieb er in seinen 1936 veröffentlichten Memoiren. Mit 17 schmiss er das Gymnasium, nachdem er von der "Odesskiy Listok", der damals größten regionalen – und vergleichsweise liberalen – Tageszeitung des russischen Reichs das Angebot erhalten hatte, als Korrespondent in Bern und Rom zu arbeiten. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Schweiz zog er nach Italien und schrieb sich als Jus-Student an der Sapienza-Universität ein. Letztere sah er in den Jahren bis zur Jahrhundertwende kaum von innen.

Odessa ohne Juden unvorstellbar

Im jüdischen Museum von Odessa hängt ein Foto von Jabotinsky, das ihn kurz nach seiner Rückkehr zeigt. Zu sehen ist ein geschneuzter und gekampelter 20-Jähriger in Nadelstreif-Dreiteiler und Krawatte, dessen herausfordernder Blick hinter einem Zwicker hervorsticht. Angesichts des Status des berühmten Sohns der Stadt widmet ihm das in einer ehemaligen Großbürgerwohnung in der Nizhyns'ka-Straße am Altstadtrand untergebrachte Museum erstaunlich wenig Platz. Auf die Frage, warum, zuckt der gedrungene Mittvierziger mit den schütteren roten Haaren und den lebhaften Augen, der durch seine Räume führt, mit den Schultern: "Wir versuchen, soweit es geht, Original-Exponate auszustellen. Hier, sehen Sie, steht ein Geschirrregal aus dem Haushalt von Isaac Babel. Aber von Jabotinsky haben wir nicht mehr."

Jabotinskys Foto im jüdischen Museum von Odessa.
Foto: Stimeder

Der Museumsführer heißt Tzvi Hirsch und ist Mitglied des lokalen Ablegers der chassidischen Chabad-Bewegung. Nämlicher gehören die meisten der heute geschätzt 30.000 in Odessa lebenden Juden an. Eine verschwindend kleine Minderheit in einer Stadt, deren Angehörige einst stabil ein Drittel der Bevölkerung stellten. "Seit dem Krieg sind es noch weniger geworden", sagt Hirsch, "aber sie werden zurückkommen, wenn er vorbei ist. Odessa ohne Juden? Das ist unvorstellbar." Nachsatz: "Sie müssen verstehen: Jabotinsky war nur einer von vielen berühmten Odessiter Juden."

Falsche Einschätzung

Die Reserviertheit, mit der Tzvi Hirsch und andere lokale Chabad-Mitglieder Leuten mit besonderem Interesse an Jabotinksy begegnen, kommt mutmaßlich nicht von ungefähr. Für religiösen Eifer hatte die heutige Ikone der israelischen Rechten zu Lebzeiten wenig über. Auch wenn er jene Strömungen, deren Mitglieder ihre jüdische Identität zuerst oder gar vollständig über den Glauben an Gott definieren, gegen Ende seines Lebens als Alliierte sah, hielt er Phänomene wie den Chassidismus für bloße Ausdrücke einer Überlebensstrategie; als Mittel, die Teilen der Diaspora als Ersatzdroge für den Mangel an einem eigenen Land diente und die mit der Errichtung des Staates Israel schnell an Bedeutung verlieren würde. Eine Überzeugung, die von der israelischen Realität des 21. Jahrhunderts widerlegt wird. Von den rund sieben Millionen in Israel lebenden Juden über 20 bezeichneten sich laut dem Zentralbüro für Statistik in Jerusalem zuletzt nur 45 Prozent als säkular. 33 Prozent deklarieren sich heute als religiös und knapp über zehn Prozent gehören ultraorthodoxen Gemeinschaften an.

Wie Jabotinsky mit seiner Einschätzung derart danebenliegen konnte? Nach übereinstimmender Historikermeinung liegt der Schlüssel zur Antwort auf diese Frage in der Verfasstheit jenes Odessa der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, über das er in seinen Memoiren schrieb: "Ich habe noch nie eine Stadt gesehen, die so unbeschwert war wie sie. (…) Ich habe auch in Wien gelebt und kann das spirituelle Klima deshalb mit demselben Maßstab vergleichen. Keine Stadt konnte es mit Odessa aufnehmen."

Kosmopolitisches Odessa

Mit Ausnahme Warschaus lebten Anfang des 20. Jahrhunderts nirgendwo so viele europäische Juden wie in der Hafenstadt, die sie sich unter anderen mit Ukrainern, Polen, Moldawiern, Griechen, Türken, Tataren, Aseris, Georgiern, Armeniern und Russen teilten. Bis zur Gründung der Sowjetunion bildete dementsprechend der Kosmopolitismus ihr kennzeichnendes Merkmal. Eines, dem selbst die Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschlossene Russifizierung – 1794 hatte die deutsche Zarin Katharina II. die Umbenennung und den Ausbau der erstmals 1415 urkundlich erwähnten Siedlung beschlossen – lange nichts anhaben konnte. Bis dahin hatte auf den Straßen von Odessa, von dem Russlands heutiger Diktator Wladimir Putin im Rahmen einer vorweihnachtlichen TV-Propagandashow behauptete, dass "jeder weiß, dass es russisch ist", Italienisch die Lingua Franca gebildet.

Im Gegensatz zu anderen aus Osteuropa stammenden zionistischen Führern wie Chaim Weizmann und David Ben-Gurion, beide Produkte des ländlichen, religiös geprägten Schtetls, galt die Stadt, in der der junge Jabotinsky seine politischen Überzeugungen formte, als urbane, fortschrittliche Metropole, deren den Individualismus förderndes Geschäftsklima ihnen verdächtig schien. Weizmann, später Israels erster Präsident, schrieb in seinen Erinnerungen, dass Jabotinsky, der ihm "gleichzeitig immens attraktiv und ziemlich hässlich" erschien, "etwas ganz und gar Nichtjüdisches an sich hatte". Ben-Gurion, Israels erster Premier, staunte zeit seines Lebens über "die Leichtigkeit, mit der Jabotinksy Nichtjuden begegnete, die er weder instinktiv fürchtete noch sich als etwas Besseres sah".

"Kultureller Zionismus"

Von regelmäßigen Pogromen, die mit Fortdauer der russischen Herrschaft von dieser nicht nur toleriert, sondern zunehmend aktiv befördert wurden, blieb Odessa trotz seines Rufs als Hort des Liberalismus indes nicht verschont. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte eine von dem Anwalt Leon Pinsker angeführte Gruppe lokaler Geschäftsleute als Antwort darauf das "Komitee von Odessa" gegründet. Nämliches kaufte Grund im damals noch zum Osmanischen Reich gehörenden Palästina auf und half Migranten bei der Übersiedlung. Eine frühe Form des Zionismus mit Odessa als Ausgangspunkt, von dessen Hafen tausende Juden Richtung Heiliges Land ablegten. Publizisten wie Asher Ginsberg, besser bekannt unter seinem hebräischen Wahlnamen Ahad Ha'am, erfanden zeitgleich am selben Ort den "kulturellen Zionismus" als Gegenpol zu dem von Theodor Herzl und seinen Anhängern propagierten "politischen Zionismus".

Hatte sich Jabotinksy in Bern und Rom weniger Identitätsfragen als dem Leben der Boheme gewidmet, waren es nach seiner Rückkehr Debatten wie diese, die ihn zunehmend zu beschäftigen begannen. Obwohl seine Mutter koscher gekocht, täglich gebetet und jeden Samstag die Sabbath-Kerzen angezündet habe, bekannte Jabotinksy in seinen Memoiren, "dass ich lange keinen inneren Kontakt mit dem Judaismus hatte. (…) Ich hatte einfach keine klare Vorstellung davon. Jude sein war etwas, dass so selbstverständlich war wie das Händewaschen oder zu Mittag Suppe essen."

Verfallsroman

Am Ende der Lanzheronivs'ka-Straße steht ein kleines Haus, das sich so unauffällig wie nahtlos in das es umgebende Ensemble neoklassizistischer Bauten einreiht. Bis Mitte November waren seine Öffnungen mit Brettern vernagelt; eine Folge der bisher heftigsten russischen Angriffe auf Odessa im Sommer, bei denen die von den einschlagenden Drohnen und Raketen ausgelösten Druckwellen tausende Fenster im Zentrum bersten ließen. Fotografieren ist hier streng verboten. Entlang des Hauses stehen provisorische Befestigungsanlagen, die im Fall einer Landung der russischen Schwarzmeerflotte das benachbarte Rathaus und die umliegenden Verwaltungsgebäude schützen sollen. In der Sowjet-Ära zum Literaturmuseum umfunktioniert, hatte es davor der Literarischen und Künstlerischen Gesellschaft von Odessa als Sitz gedient. 1935 verewigte Jabotinsky diesen Ort in seinem im russisch-jüdischen Milieu des Fin de Siècle spielenden Verfallsroman "Die Fünf" als "den Fokus unseres spirituellen Ferments".

Im Winter 1901/02 entfachte er mit einem hier gehaltenen Vortrag seinen ersten landesweiten Furor. Kurz zuvor war er für zwei Monate in Einzelhaft gelandet, nachdem er, inspiriert von seinen Erfahrungen in Westeuropa, in einer Reihe von Feuilletons gegen das russische Establishment angeschrieben hatte. Im Rahmen des Vortrags stellte Jabotinsky die Wichtigkeit des Individuums über die der Massen und berief sich dabei unter anderem auf den Anarchisten Michail Bakunin. Letzterer hatte vorhersagt, dass die "Diktatur des Proletariats" eine größere Gefahr für die Freiheit des Menschen darstelle als jede andere in der Geschichte. Zeitgleich zu Jabotinskys wachsendem Skeptizismus gegenüber sozialistischen Dogmen gesellte sich ein sich stetig erweiterndes Bewusstsein über seine eigene Identität.

Bourgeoise Bewegung

Nur ein paar Hundert Meter vom Sitz des Literaturmuseums die Lanzheronivs'ka hinauf liegt die Oper von Odessa, eines der Wahrzeichen der Stadt. Nach seiner Haftentlassung war Jabotinksy hier, in der Pause einer Vorstellung, dem Geschäftsmann und zionistischen Aktivisten Shlomo Saltzmann vorgestellt worden. Der hatte ihm nicht nur die Lektüre der Literatur seiner Odessiter Freunde Leon Pinsker und Moshe Leib Lilienblum, sondern auch die von Theodor Herzl nahegelegt.

Der Aktivismus, den diese Leute praktizierten, fand bei weitem nicht überall Beifall. Zahlreichen linken Juden galt der Zionismus als tief bourgeoise Bewegung, die Europas Diaspora von der Notwendigkeit des revolutionären Kampfes ablenke. In den Augen vieler Rechter stellte er dagegen eine subversive Kraft dar, die Disloyalität gegenüber den Ländern beförderte, in denen sie lebten. Einer entsprechenden Kritik des prominenten russischen Journalisten und Intellektuellen Ossip Bikerman, der wortgewaltig der Assimilation das Wort redete, entgegnete Jabotinsky auf den Seiten seines damaligen Arbeitgebers "Odesskaya Novosti" so: "Man kann darüber streiten, ob der Zionismus eine wünschenswerte oder praktikable Lösung ist. Aber ihn reaktionär zu nennen bedeutet, einen Traum zu verleumden, der den Tränen und dem Leiden des jüdischen Volkes entsprungen ist."

"Genie ohne besondere Talente"

Als Herzl 1904 überraschend starb, veröffentlichte Jabotinksy einen Nachruf auf das laut ihm "Genie ohne besondere Talente", dessen Worte ihm fortan politisches Programm sein sollten: "Der Jid hat die Unterwerfung angenommen; der Hebräer soll wissen, wie man befehligt. Der Jid versteckt sich gern mit angehaltenem Atem vor den Blicken von Fremden; der Hebräer soll mit Dreistigkeit und Größe in die Welt hinaus marschieren, ihnen direkt und tief in die Augen schauen, sein Banner hissen und sagen: 'Ich bin ein Hebräer!'" Für seinen Biografen Hillel Halkin nur zwei von zig Belegen, dass "die allgemeine Annahme, dass Jabotinksy erst als Erwachsener zum Zionismus fand, schon immer eine falsche war".

Einig ist sich Halkin mit anderen Jabotinsky-Biografen wie Joseph Schechtman, Shmuel Katz und Brian Horowitz aber über die einschneidende Wirkung zweier Massaker auf ihr Studienobjekt, die seinerzeit selbst in dieser an Grausamkeiten gegenüber Minderheiten nicht armen Weltgegend ihresgleichen suchten. Im April 1903 ermordeten von der antisemitischen Presse aufgepeitschte Massen in Kischinau (Chișinău) 49 Juden und verletzten über 500. Das Pogrom in der heutigen Hauptstadt der Republik Moldau, die rund 160 Kilometer nordwestlich von Odessa liegt, führte unter anderem zu Theodor Herzls Plan, Europas Juden temporär ins britische Protektorat Ostafrika umzusiedeln.

Jabotinsky war sofort nach Kischinau gereist, um bei der Verteilung von Hilfsgütern zu helfen. Er begutachtete die Verwüstung, redete mit Überlebenden und besuchte Verletzte im Spital. Den Erfahrungen, die er dabei machte, machte er nach seiner Rückkehr Luft – in einer so ungewöhnlichen wie drastischen Weise. Im Vorwort des von ihm vom Hebräischen ins Russische übersetzten Epos "In der Stadt des Schlachtens" von Hayim Nahman Bialik, in dem der 1934 in Wien verstorbene Dichter das Pogrom in Versform nacherzählte, richtete sich Jabotinskys Wut weniger gegen die Täter als die Opfer; auf die Juden, die sich "nicht gewehrt, sondern in ihren dunklen Kellern versteckt haben".

Wandel zum Kämpfer

Seine Übersetzung verkaufte sich besser als das Original. Noch im Jahr des Massakers von Kischinau zum Delegierten des Sechsten Zionistischen Weltkongresses gewählt, begann Jabotinksy nach seiner Rückkehr nach Odessa Hebräisch zu lernen und Selbstverteidigungsgruppen zu organisieren. Laut Halkin fiel ihm das Ausfüllen seiner neuen Rolle nicht schwer: "Es war schon als Jugendlicher seine Natur, zurückzuschlagen, wenn er attackiert wurde. Und wenn er zurückschlug, tat er das als Jude und als Mensch."

Die Wandlung vom zionistischen Sympathisanten zum so aggressiven wie kompromisslosen Kämpfer für die Errichtung eines jüdischen Nationalstaats war vollzogen. Eine, der Jabotinsky nach übereinstimmendem Urteil seiner Zeitgenossen eine vielversprechende literarische Karriere opferte. Der bekannte russische Schriftsteller Alexander Kuprin formulierte es in einer 1910 in Odessa gehaltenen Rede so: "Er ist mit einem gottgebenen Talent gesegnet. Jabotinsky wäre ein Adler der russischen Literatur geworden, hätten ihn uns die Juden nicht gestohlen. Was für ein Verlust!"

Theaterstücke

Eine Ahnung von Jabotinskys literarischem Talent geben neben drei zwischen 1901 und 1908 in Odessa entstandenen Theaterstücken ("Blut", "In Ordnung", "Fremdes Land") und den "Fünf" das 1927 erschienene und knapp zwei Jahrzehnte später von Hollywood-Regiestar Cecil B. DeMille verfilmte Historienepos "Samson der Nazarener" (auf Deutsch unter dem Titel "Richter und Narr" bei der von Hans Magnus Enzensberger gegründeten Reihe Die Andere Bibliothek erhältlich).

Wie konsequent der Bruch vom russisch sprechenden, weitgehend assimilierten Odessiter Juden zum militanten Zionisten vonstattenging, illustriert nicht zuletzt die Tatsache, dass Jabotinsky von nun an ausschließlich seinen hebräischen Namen benutzte: Ze'ev ("Wolf"). Zu dem Zeitpunkt, als seine Heimatstadt selbst zum Schauplatz des bis dahin schlimmsten Pogroms ihrer Geschichte wurde – zwischen 18. und 22. Oktober 1905 töteten Russen, Ukrainer und Griechen in Odessa über 400 Juden und beschädigten oder zerstörten über 1.600 ihrer Besitztümer –, weilte er in Sankt Petersburg. Eine Tragödie, die er vorausgesehen hatte, als der Ruf "Schlagt die Juden und rettet Russland!" infolge der Niederlage des Zaren-Heers gegen Japan auch hier unüberhörbar geworden war: "Im Allgemeinen wurde es in Odessa ungemütlich."

Die gescheiterte Revolution im Anschluss an den Krieg tat ihr Übriges, ihn in seiner Weltanschauung zu bestätigen: "Ein Knüppel in der Hand zu allen Zeiten – es gibt keinen anderen Weg, um den Krieg der Wölfe zu überleben." Ende 1905 hielt er in dem gleichen Literatursalon am Ende der Lanzhernovis'ka, in dem er vier Jahre zuvor vor dem Bolschewismus gewarnt hatte, einen Vortrag als Reaktion auf das Pogrom, der zur Publikumsbeschimpfung geriet. Der Sukkus, zusammengefasst in einem Zitat, das angesichts der heutigen Situation wieder aktueller erscheint denn je: "Und wo wart ihr, all ihr progressiven russischen Intellektuellen?"

"Babylonische Diversität"

Die zeitgleich überall in Europa aufkommenden Nationalbestrebungen – darunter die ukrainische, mit der er offen sympathisierte – festigten Jabotinskys Überzeugung, dass es mit der "babylonischen Diversität" seiner Heimatstadt schon bald vorbei sein würde. Der wochentägliche Gang von seiner Wohnung in der Judenstraße in die Passage am Anfang des Prachtboulevards Deribasivs'ka, den er 1936 in "Die Fünf" minutiös nachzeichnete, fiel ihm zunehmend schwerer. In der glasüberdachten Einkaufs-Arkade im Pariser Stil, in der heute wie gestern eine Unzahl neoklassizistischer Skulpturen über die ebenerdigen Boutiquen und Souvenirläden wacht, befanden sich bis zu ihrer von den Sowjets verfügten Schließung 1920 die Büros der "Odesskaya Novosti", für die er fast bis zuletzt Beiträge schrieb.

Auch wenn er zunehmend mehr Zeit mit von zionistischen Organisationen gesponserten Vortragsreisen im In- und Ausland verbrachte, dauerte es noch bis 1915, bis Jabotinsky Odessa verließ. Im Sommer 1908 unternahm er seine erste Reise nach Palästina, nachdem er zuvor als Reporter über die Revolution der Jungen Türken in Istanbul berichtet hatte. Schon damals, vier Jahrzehnte vor der Gründung Israels, sah er den Konflikt voraus, den er später in der "Eisernen Mauer" analysierte und der bis heute anhält: "Die Araber haben die gleiche instinktive Liebe und den gleichen angeborenen Eifer für Palästina wie sie die Azteken für Mexiko und die Sioux für die Prärie hatten. Alle Eingeborenen werden die Siedler so lange bekämpfen, solange sie die Hoffnung haben, sie besiegen zu können." Wirklichkeit werden könne der Staat Israel entsprechend nur mit Gewalt. Was es brauche, sei eine starke jüdische Armee, die eine "eiserne Mauer errichtet, die die Entwicklung des Judenstaats schützt und in der es keine Lücken gibt". Friedensverhandlungen würden erst dann möglich, "wenn die Araber keine andere Wahl mehr haben".

Auf ganzer Linie gescheitert

Verfasst hatte Jabotinsky diesen Schlüsseltext der israelischen Rechten, dem zwei Jahre später die Gründung der Partei des Revisionistischen Zionismus folgte – die Keimzelle des heutigen Likud und seiner Satelliten – 1923 auf Russisch. Odessa hatte er zu diesem Zeitpunkt längst hinter sich gelassen. Fünf Jahre nach der Geburt seines einzigen Sohns Eri verließ er die Stadt, die für ihn einst "das Symbol eines glanzvollen Morgen" repräsentiert hatte, für immer.

Ironie der Geschichte: Zum Zeitpunkt seines Todes galt Jabotinsky als nahezu auf ganzer Linie gescheitert. Seine Anstrengungen, im Ersten Weltkrieg für die Briten eine rein jüdische Einheit zur Unterstützung der Befreiung Palästinas von den Türken zusammenzustellen, war zwar formal erfolgreich, beschränkte sich aber auf ein Versorgungskorps. Im Kongress der zionistischen Weltorganisation, die seine Fraktion wegen unüberbrückbarer Differenzen mit den linken und liberalen Fraktionen in den Dreißigerjahren verließ, waren die Revisionisten bis zuletzt eine Minderheit geblieben. Die von ihm 1927 gegründete, militante Jugendbewegung Betar, benannt nach seinem Kampfgefährten Joseph Trumpeldor (B'rit Trumpeldor), musste sich wegen ihrer konservativen Ausrichtung und ihren strengen Verhaltensregeln von Ben-Gurion, Weizmann und Co. bis zuletzt vorwerfen lassen, eine "faschistische Organisation" zu sein, die von "dem gefährlichen Demagogen Vladimir Hitler" geführt werde. Aus Palästina wurde er 1930 wegen Volksaufwiegelung von den Briten verbannt. Den angesichts der von ihm schon Anfang der Dreißigerjahre erkannten "Katastrophe, die auf unser weltweites Ghetto zukommt" immer verzweifelnder werdenden Wettlauf mit der Zeit verlor er.

Ikonenstatus

Dem Ikonenstatus, in den Jabotinsky posthum erhoben wurde, tat das keinen Abbruch. Beachtlich nicht nur insofern, als ihm die israelische Regierung – nicht zuletzt auf Drängen Ben-Gurions – jahrzehntelang die Erfüllung seines letzten Wunsches verweigert hatte: in Jerusalem seine letzte Ruhestätte zu finden. Erst 1964 wurden Jabotinskys sterbliche Überreste aus den USA, wo er trotz zahlreicher dort absolvierter Vortragsreisen zeitlebens nie eine starke Basis etablieren konnte, nach Israel überführt. In der ersten Reihe derer, die ihn auf dem letzten Weg vom Flughafen zum Herzl-Berg begleiteten, stand die Familie eines Universitätsprofessors namens Benzion Netanjahu. Der anerkannte Experte für die jüdische Geschichte des Mittelalters hatte Jabotinsky bis zu seinem Tod als Privatsekretär gedient.

Neben dem Vater von Benjamin Netanjahu, dem ersten Premierminister des Landes, der in Israel geboren wurde, nahmen zwei weitere künftige Premiers und ehemalige Betar-Mitglieder an der Zeremonie teil: Yitzhak Shamir, ein Ex-Kommandeur der militanten Lehi, besser bekannt unter dem Spitznamen Stern-Gang, der das Land von den frühen Achtzigern bis Anfang der Neunziger fast ununterbrochen regierte, und sein Vorgänger Menachem Begin. Letzterer brach 1977 im neunten Anlauf die jahrzehntelange Vorherrschaft der Linken und gründete die erste rechte Regierung in Jerusalem. Sein politisches Erleuchtungserlebnis hatte der nachmalige Irgun-Führer und Chef der Herut, der Vorgängerpartei des Likud, rund fünf Jahrzehnte zuvor. "Du hast mit jeder Faser deines Körpers gespürt, wie er dich mit seinen Worten aufrichtet. (…) Er flüstert in dein Ohr, dass du ab jetzt für immer in seiner Ideologie geweiht bist und du sitzt da und sagst: Ja, ich bin für immer geweiht", schrieb Begin in seinen Memoiren über die Wirkung von Jabotinskys Rede im Lokaltheater seiner belarussischen Heimatstadt Brest im Jahr 1928.

Feiertag, Institut und Medaille

Begin und Shamir waren die letzten Premierminister Israels, die Jabotinsky noch persönlich erlebt hatten. Ungeachtet dessen scheint der Kult um seine Person seit dem Abschied dieser Politikergeneration (Begin starb 1992, Shamir 2012) nur noch zugenommen zu haben. Dem nicht genug, dass heute kein anderer Name in Israel mehr Straßen, Parks und Plätze ziert, gibt es einen Jabotinsky-Feiertag, ein Jabotinsky-Institut und eine Jabotinsky-Medaille, die für herausragende Leistungen in Literatur und Forschung verliehen wird. Ein Umstand, der seinen Biografen Halkin nicht nur irritiert, sondern sauer aufstößt.

Während das offizielle Israel Jabotinksy als Säulenheiligen feiert und sich die Netanjahu-Regierung mehr denn je auf seine Worte und Taten als Rechtfertigung für ihre Eskalationspolitik beruft, fällt das Urteil des 84-jährigen, in Jerusalem lebenden Historikers über den Umgang mit dem geistigen Erbe des Odessiters vernichtend aus. Wie er jüngst im Interview mit dem Podcast "Decision Points" darlegte, gibt sich Halkin davon überzeugt, "dass Jabotinksy den heutigen Likud verachten würde. Er war ein überzeugter Liberaler, aber all die, die sein Erbe hochhielten, sind mittlerweile ausgestorben oder wurden marginalisiert. Er mag ein Nationalist gewesen sein, aber vor allem anderen war er ein Humanist und ein Mann von Welt. Die heutige israelische Rechte hätte er als hypernationalistisch, provinziell und kleingeistig empfunden. Was soll ich sagen: Bei jeder Veranstaltung des Likud hängt seit Jahren ein riesiges Porträt von ihm im Hintergrund. Es ist immer das gleiche Bild. Aber für mich sieht er darauf mit jedem Jahr, das vergeht, trauriger aus." (Klaus Stimeder aus Odessa, 27.2.2024)