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Ein neuer Lichtblick im ARPG-Genre? Ab sofort stellt sich "Last Epoch" offiziell Genregrößen wie "Diablo 4" oder "Path of Exile".
Eleventh Hour Games

Monsterhorden vermöbeln, hochleveln und Beute abgreifen in Endlosschleife: Wenn es um das vermeintlich simple Erfolgsrezept klassischer Dungeon-Crawler geht, gelten "Diablo IV" und "Path of Exile" derzeit als die beiden Platzhirsche, die um die Genre-Krone wetteifern. Was aber, wenn es einen sprichwörtlichen Dritten gäbe, der einen goldenen Mittelweg gefunden hat und sich darüber freut, dass die zwei sich streiten? "Last Epoch" für den PC hat soeben den Early Access auf Steam verlassen und stellt schon nach kurzer Zeit unter Beweis, dass es im Genre noch genügend Platz für Feinschliff gibt. Der STANDARD hat das Action-Rollenspiel angespielt.

Alte Formel, neue Handschrift

Dabei ist "Last Epoch" alles andere als ein Newcomer. Eleventh Hour Games, das Studio hinter dem Spiel, entstand vor Jahren aus einer gemeinsamen Leidenschaft von Enthusiasten, die sich über Reddit zusammengeschlossen haben. Wohl auch deshalb, weil ihnen im Spieldesign bekannter Genregrößen einiges fehlte. Nach einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne im Frühjahr 2018 ging der erste Anlauf des Indie-Studios 2019 in die Early-Access-Phase und sorgte dort schon früh mit frischen Ideen für Aufmerksamkeit.

Dabei sollte von Anfang an aber auch klar sein, dass Eleventh Hour Games das Rad nicht neu erfinden wollte: Denn nach den ersten Spielminuten wirkt "Last Epoch" wie ein dreister Diablo-Klon auf höchstem Niveau chinesischer Inspiration. Um eine bessere Vergleichbarkeit zu erzielen, hat sich der Autor für jene Charakterklasse entschieden, mit der er zuletzt auch "Diablo 4" gespielt hat. Die Akolythin, die am ehesten dem Totenbeschwörer entspricht, lässt sich im weiteren Spielverlauf tatsächlich zur Nekromantin spezialisieren – und spielt sich auch exakt so.

Screenshot zum PC-Spiel
Als Nekromantin ist man nie alleine. Wie gut diese Gesellschaft aus Untoten, Golems und Riesen-Zombies wirklich ist, bleibt diskussionswürdig.
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So attackiert man in dem Fall Monsterhorden mit Blutzaubern oder Knochensplittern, während man zunehmend mehr und abscheulichere Kreaturen aus dem Reich der Toten auferstehen und für sich kämpfen lässt. Auf Wunsch natürlich auch gemeinsam mit bis zu drei Freunden im Koop-Modus. Keine große Überraschung. Nicht nur spielerisch ist das Feeling in den Anfangsminuten erschreckend ähnlich der bekannten Genregröße. Besonders die musikalische Untermalung, Details in der Kulisse oder eine inhaltlich allzu offensichtliche Kopie von Deckard Cain sorgen dafür, dass Diablo-Fans sofort abgeholt werden, um es höflich zu formulieren.

Zeitreisen nach Geschmack der Spieler

Nach und nach wird aber klar, dass "Last Epoch" sehr wohl Akzente setzen will, mit denen man die alten Muster der Vorbilder aufbrechen möchte. Das beginnt schon mit der Geschichte und dem Aufbau des Spiels, das als Zeitreise über den Untergang einer Zivilisation aufgespannt ist. Gerade am Anfang können wilde Zeitsprünge für Verwirrung sorgen, die auf fünf unterschiedliche Epochen verteilt sind.

Tatsächlich muss man die Kampagne, die sich über neun Kapitel erstreckt und in rund 15 Stunden Spielzeit zu bewältigen ist, nicht einmal vollständig durchspielen und verstehen, um ins Endgame zu kommen. Der Gedanke des Zeitreisens und die damit verbundene Abwechslung der Kulisse wissen zwar zu gefallen: Die Bandbreite der Schauplätze reicht von Tempeln und Katakomben über Geisterschiffe bis hin zu Kanalisationslabyrinthen und Forschungslaboren. Dementsprechend vielfältig fallen die Widersacher aus.

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Fünf Epochen und trotzdem wenig Geschichte: Die Story von "Last Epoch" zählt nicht zu den Highlights des Spiels.
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Aber ganz ehrlich: Die damit erzählte Geschichte wird es (einmal mehr) nicht sein, die den Spielerinnen und Spielern von "Last Epoch" hängen bleibt. Das Element der Zeitreise hat für die Handlung im Endeffekt weniger Bedeutung, als man glaubt, und Überraschungen bleiben aus.

Meisterklassen und Skill-Urwald

Überraschend hingegen ist, wie flüssig und schnell sich "Last Epoch" spielt. Nach wenigen Stunden stehen mit der Nekromantin deutlich mehr und interessantere Spieloptionen zur Verfügung, als sie bei "Diablo 4" nach wesentlich mehr Spielzeit verfügbar waren. Generell fühlt sich der Loot-Rausch mit "Last Epoch" durch die einzelnen Gebiete und Dungeons an wie der kleine Bruder von Diablo, der im 100-Meter-Sprint doppelt so schnell die Ziellinie passiert.

Maßgeblich dafür verantwortlich ist der Charakteraufbau, der noch recht harmlos mit der Auswahl fünf verschiedener Klassen beginnt: Sentinel (Ritter), Magier, Schurkin, Primalist (Druide) und Akolythin (Totenbeschwörerin) stehen dabei anfangs zur Auswahl. Mit zunehmendem Hochleveln des Charakters bietet jede Klasse weitere Spezialisierungen in Form von Meisterklassen. Einmalig im Spiel kann man sich auf eine von drei vollständigen Meisterklassen spezialisieren, die anderen beiden lassen sich dennoch (nur) bis zur Hälfte aufwerten.

Last Epoch Official Launch Trailer | Echoes from the Void
Last Epoch

Kernstück von "Last Epoch" ist ein ausgeklügelter Mix aus Skill- und Passivsystemen, und jede der bis zu fünf wähl- und nutzbaren Fähigkeiten des Charakters verfügt über einen eigenen Skilltree – im gesamten Spiel gibt es also insgesamt mehr als 120 davon. Ein Crafting-System ermöglicht es Spielerinnen und Spielern zusätzlich, dass sie ihre Ausrüstung simpel durch die Verwendung unterschiedlicher Scherben nach Belieben anpassen können, was der Charakterentwicklung eine weitere Ebene der Tiefe verleiht. Und deutlich zielgerichteter von der Hand geht als bei der großen Konkurrenz.

So, wie es dir am besten passt

Generell gewinnt man schon früh den Eindruck, dass "Last Epoch" die Spieler innen und Spieler tendenziell eher fördert und nicht das Gefühl gibt, sie künstlich einzubremsen, wie es bei "Diablo 4" der Fall war. Zwei Beispiele: Bei "Diablo 4" musste man zur Inventarverwaltung mit wenigen Reitern zurechtkommen, hier sind es 200 Reiter, die man mit Ingame-Währung freischalten kann. Gewöhnliche Gegenstände nerven? Kein Problem: Ein genialer Loot-Filter ermöglicht es, bestimmte Sachen auf der Jagd nach Gegenständen unter bestimmten Kriterien auszuschließen oder zur sofortigen Kennung nach Wunsch einfärben zu lassen. Das Interface ist nutzerfreundlicher, und das Craftingsystem ist am Anfang zwar überwältigend, aber beides lässt viel gezielter auf gewünschte Items hinarbeiten.

Screenshot zum PC-Spiel
Das Inventarverwaltung von "Last Epoch" lässt sich flexibel individualisieren.
Eleventh Hour Games

Das ist vor allem fürs Endgame wichtig, auf das man bereits am dem dritten Kapitel zugreifen kann. Die zentrale Spielmechanik dreht sich dabei um das Durchqueren von sogenannten Monolithen und das Durchstöbern alternativer Timelines, um durch bestimmte Aufgaben und durch das Besiegen von Bossen immer hochwertigere Beute zu sammeln. Alternativ dazu kann man in einer Endlos-Arena nicht nur Loot abgreifen, sondern seine Leistung auch mit anderen Spielern messen.

Verbesserungsfähig

Bei aller Begeisterung für einen umfangreichen, unkomplizierten und individualisierbaren Dungeon-Crawler: Frei von Fehlern ist auch "Last Epoch" nicht. Abgesehen von der vernachlässigbaren Story, die mit dem Zeitreisen durchaus noch mehr Potenzial gehabt und mehr Differenzierung ermöglicht hätte, kam es beim Anspielen mit Kollegen hin und wieder zu Verbindungsproblemen im Koop. Mitspieler wurden auf einmal nicht mehr angezeigt, obwohl sie da waren, zweimal kam es auch zu einem Spielabbruch. Sollte es beim Release zu einem Ansturm der Spieler kommen, dürften diese Beschwerden nur zunehmen.

Ein wenig nervig war auch der Umstand, dass es kein ordentliches Feedback gibt, dass bzw. ob man ein neues Areal betreten hat. Man wählt den Exit eines Levels und erfährt erst durch einen verspätet einsetzenden Ladebildschirm, ob es geklappt hat oder nicht. Das gilt umgekehrt auch, wenn man das Areal eigentlich gar nicht verlassen will und es versehentlich aber doch tat. Hinzu kommt, dass das Inventar trotz des Loot-Filters recht schnell voll werden kann. Auch der Umstand, dass man Fähigkeiten am Skilltree einschränken muss, um andere freizuschalten, ist möglicherweise dem Balancing zuzuschreiben, dürfte aber nicht jedem gefallen. Nicht zu den Schwächen zählt die technische Umsetzung: Auf drei getesteten Systemen (Steam Deck inklusive) konnte "Last Epoch" einwandfrei betrieben werden, sowohl mit Maus und Tastatur als auch mit Controller.

Fazit von Benjamin

Was soll ich sagen: Ich hatte schon nach drei Stunden mehr Spaß mit "Last Epoch" als mit "Diablo 4" nach einem Vielfachen der Spielzeit. Abgesehen davon, dass das Herumexperimentieren mit den Meisterklassen und den irren Skilltrees bei Laune hält, schafft es Eleventh Hour Games hervorragend, dem Spieler zwei Gefühle zu vermitteln: nämlich einerseits das Rollenspiel vom Handling her so an seinen Geschmack anpassen zu können, wie man möchte. Andererseits kann man seiner Power-Fantasy ungezügelt freien Lauf lassen und den Bildschirminhalt mit wenigen Mausklicks eindrucksvoll "in Brand stecken".

Letztendlich bleibt die Frage, wie lange dieses Konzept durch das Endgame trägt, mit dem ich gerade erst begonnen habe. Wenn man bedenkt, dass das Spiel auch hervorragend zum Socializen im Koop-Modus geeignet ist und sogar Lust darauf macht, Charakterklassen auszuprobieren, mit denen ich sonst wenig am Hut habe, dürfte ich hier noch mehr Zeit verbringen als mit vergleichbaren Genre-Konkurrenten. Das ist deutlich mehr, als ich mir vor der Installation des Spiels erwartet habe.

Fazit von Peter

Mein Fazit: Mein Verhältnis zu ARPGs war schon immer schwierig. Klar liebe ich es, wie der Kollege Brandtner auch, mich durch Horden von Monstern zu schnetzeln. Aber ich bin ein ziemlich verwöhnter Monsterschlächter. Ich will mich fühlen wie Conan der Barbar, der gerade seiner Lieblingsbeschäftigung nachgeht und nicht wie ein schwachbrüstiger Zaubererlehring am ersten Schultag in Hogwarts. Ich will Blitze, Explosionen und Kriegsschreie, ich will den endorphingeladenen Machtrausch, die Farben, die Wucht, das Trefferfeedback. Balance? Mir doch wurscht, Hauptsache, das Spiel bevorzugt mich und die Monster werden effektvoll zergatscht. Raffiniertes Crafting? Brauch ich nicht, heute steht Faschiertes auf dem Speiseplan!

Hat ein Spiel all das nicht, wird mir spätestens ab Akt 3 langweilig. Denn wenn die Glückshormone nachlassen, erkennt mein Gamerhirn, was ich hier wirklich tue: nämlich Gegner totklicken. Und schon klingt die Machtfantasie nicht mehr ganz so sexy. Bei "Last Epoch" ist mir noch nicht langweilig geworden, und das hat schon lange kein Spiel dieser Art mehr geschafft. Ob dieser Zustand anhält, kann ich nach einigen Stunden noch nicht sagen. aber nach der Enttäuschung durch "Diablo 4" ist "Last Epoch" eher "Last Hope" für die frustrierte Gamerschaft geworden. Aktuell sieht es so aus, als würde mein Endorphinrausch jedenfalls nicht nachlassen.

Fazit von Alex

Ich hatte "Last Epoch" eigentlich gar nicht auf dem Radar. Nachdem ich als langjähriger Begleiter der "Diablo"-Franchise spätestens nach Teil vier überzeugt war, dass die ARPG-Formel einfach nicht sinnvoll zu erweitern ist, habe ich mich auf erneut monotones Schnetzeln und die ein oder andere Loot-Spirale eingestellt. Tatsächlich ist "Last Epoch" aufgrund der zahlreichen Verzweigungen in den vielen Talentbäumen allerdings spannender als sein offensichtliches Vorbild, und auch das Gameplay selbst punktet mit mehr Erfolgserlebnissen, sei es durch das schnelle Erlernen neuer Möglichkeiten, aber auch dank der pompösen Inszenierung vieler Angriffe.

Ob ich das Spiel wirklich auch in ein paar Wochen oder sogar Monaten spielen werde, weiß ich jetzt noch nicht. Nach knapp zehn Stunden bin ich dennoch optimistisch, aus den oben bereits erwähnten Gründen. Es wäre wirklich beeindruckend, wenn ein kleines, unerfahrenes Studio dem Platzhirsch Blizzard mit ihrem Erstlingswerk zeigen würde, wo der ARPG-Hammer hängt. Im Basisspiel haben sie das meiner Meinung nach schon getan. Ob die Kraft auch für ein großartiges Endgame reicht, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. (Benjamin Brandtner, Peter Zellinger, Alexander Amon, 21.2.2024)