Die großen Erzählungen zum Krieg in der Ukraine könnten unterschiedlicher kaum sein: Russland begründete das, was es seit zwei Jahren "militärische Spezialoperation" nennt, stets mit einer angeblich fortschreitenden Bedrohung durch den Westen. Sieht man von der abstrusen These ab, dass die vom russischsprachigen Juden Wolodymyr Selenskyj geführte und in die westlichen Strukturen von EU und Nato strebende Regierung in Kiew ein Nazi-Regime sei, dann bleibt im Wesentlichen die Behauptung Moskaus, man fühle sich geopolitisch bedrängt.

Das Narrativ, mit dem Russland seinen blutigen Krieg rechtfertigen will, lautet demnach: Gerne hätte der Kreml nach dem Ende des Kalten Kriegs beim Aufbau einer stabilen Machtbalance mitgeholfen. Doch die sich immer weiter nach Osten ausdehnenden westlichen Strukturen, insbesondere die der Nato, hätten genau das untergraben.

der russische Präsident Wladimir Putin
Droht auch anderen Staaten Ostmitteleuropas: der russische Präsident Wladimir Putin.
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Der Blick des Westens ist völlig konträr, wenn auch nicht genau spiegelverkehrt: Der Angriff auf die Ukraine wird meist im Kontext des Großmachtstrebens Russlands wahrgenommen, das – historisch tief verwurzelt – den nach dem Ende der Sowjetunion verlorenen Einflussbereich restaurieren will.

Unterschiedliche Auffassungen gibt es aber zur eigenen Strategie: Während manche immer noch von einem friedlichen eurasischen Gebilde "von Lissabon bis Wladiwostok" träumen, überwiegt im westlichen Diskurs die Ansicht, man habe Moskau allzu naiv gewähren lassen, vor allem nach der "Annexion" der Krim vor zehn Jahren.

Destabilisierung

Bemerkenswert an dieser Gegenüberstellung ist zweierlei: Zunächst gibt es da die Tatsache, dass im Westen – im Gegensatz zu Russland – tatsächlich von einem Diskurs die Rede sein kann. Eine Gemeinschaft demokratischer Staaten, die nicht immer einer Ansicht sind, in denen es Meinungsfreiheit gibt und die am Ende doch meist zu gemeinsamen Beschlüssen finden, steht einer autoritären Macht gegenüber, in der man wegen Kritik am Regime für Jahre ins Straflager wandern kann. Allein das sagt viel aus über die Qualität der Narrative beider Seiten.

Zum anderen laufen die beschriebenen Debatten bisweilen so, als würde das Selbstbestimmungsrecht der Ostmitteleuropäer dabei eine untergeordnete Rolle spielen – als wären diese aus einer historischen Logik heraus zu einem Dasein als Spielball fremder Großmachtinteressen verdammt. Es war aber die Ukraine selbst, die den Weg nach Westen eingeschlagen hat, was zur Destabilisierung durch Russland, zur Einverleibung der Krim und schließlich zum Großangriff auf das ganze Land führte.

Auch jene Staaten Ostmitteleuropas, die sich nun vermehrt von Moskau bedroht sehen, obwohl sie längst der EU und der Nato angehören, haben ihre Partner im Westen gefunden – und zwar aus freien Stücken. Auch ihre Souveränität hat Russland bereits kurz vor Kriegsausbruch infrage gestellt, als es die Nato aufforderte, jedwede Truppenbestandteile hinter die Linien vom Mai 1997 zurückzuziehen, dem Datum der Nato-Russland-Grundakte.

Mit einem Schlag wären in Ostmitteleuropa auf Putins Geheiß Nato-Mitglieder zweiter Klasse entstanden. Zur russischen Version von "Machtbalance" gehört auch das: Weniger mächtige Länder sind bloß Schachfiguren im großen Spiel. Ihre Souveränität ist irrelevant. (Gerald Schubert, 24.2.2024)