Ein zwölfjähriges Mädchen, das von einer Bande von Buben, selbst noch Kinder, vergewaltigt und fortdauernd sexuell missbraucht wird. Ein zwölfjähriger Bub, der von der Mutter in eine Hundebox gesperrt und so schwer und andauernd misshandelt wird, dass er fast daran stirbt. Drei chinesische Frauen, die in Wien in die Prostitution gezwungen werden und dann von einem afghanischen Asylwerber womöglich in einem Zustand religiösen Wahns mit dem Messer abgeschlachtet werden. Ein Mann, der Frau und Tochter erwürgt. Man muss nicht sonderlich sensibel sein, um bei der Aufnahme von aktuellen Nachrichten aus unserer Umgebung schockiert zu sein.

Die Gesellschaft muss lernen, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Hinhören, wo es laut wird, hinschauen, wo jemand ganz leise wird, nachfragen, wo das Verstehen aufhört.
Lea Sonderegger

Die Gesellschaft scheint zunehmend zu verrohen. Und wir mit ihr? In den sozialen Medien wird mit Stehsätzen und Vorurteilen aufeinander eingedroschen. Auch das macht etwas mit uns.

Initiative ergreifen

Wir müssen nicht alles an uns heranlassen, wir sind nicht für alles verantwortlich. So wie auch die Politik nicht für alles verantwortlich ist, was geschieht. Wir müssen uns das Leben nicht schlechtreden lassen. Aber für diejenigen, die Gewalt erleben, ist das Leben schlecht, mitunter ist es die Hölle. Das muss uns bewusst sein.

Die Politik muss reagieren, und zwar dort, wo sie an den Menschen und deren Umständen dran ist, auf lokaler Ebene. Das betrifft die Gemeinden, konkret die Gemeinde Wien. Das betrifft die Schulen, dort kann man am direktesten ansetzen. Und die Gesellschaft muss die Politik in die Pflicht nehmen: Maßnahmen mit Nachdruck einfordern. Auch die Mitmenschen, die ihre Wurzeln anderswo haben, in die Pflicht nehmen: Integration und das Bewusstsein für unsere Wertehaltung einfordern. Ebenfalls mit Nachdruck.

Aber die Entwicklung zum Besseren beginnt bei uns. Die Gesellschaft muss lernen, ihre Verantwortung wahrzunehmen. Hinhören, wo es laut wird, hinschauen, wo jemand ganz leise wird, nachfragen, wo das Verstehen aufhört. Wo es den Verdacht gibt, dass einem Menschen Gewalt angetan wird, dort müssen auch Nachbarn, Freunde und Bekannte reagieren, da macht es keinen Sinn, auf die Politik oder sonst jemanden zu warten. Da müssen wir selbst die Initiative ergreifen, das Gespräch suchen, Hilfe anbieten, Anzeige erstatten. Da gehören auch Mut und Überwindung dazu.

Weltverbesserung im Kleinen

Vielen wird diese offensichtliche Verrohung zu viel. Die Details des sexuellen Missbrauchs, die Misshandlungen des Kindes, das ist kaum auszuhalten. Allein beim Lesen. Aber es passiert. Manchen Menschen ganz real. Es wäre falsch, in der Überforderung abzuschalten. Wir müssen uns bewusstmachen, was passiert, über Ursachen nachdenken, Lösungen überlegen. Bei uns selbst beginnen. Sich auseinandersetzen, sich für andere interessieren – und für sich selbst. Sein eigenes Tun reflektieren, sich den Problemen stellen. Hilfe in Anspruch nehmen, wenn man merkt, dass es wo hakt. Anderen nicht wehtun, auch nicht verbal. Wertschätzung zeigen. Die Weltverbesserung im Kleinen beginnen, nicht auf die großen Schritte warten.

Das mag naiv klingen und nichtig angesichts der großen Probleme, wenn man in die Ukraine schaut oder nach Gaza. Resignieren ist aber keine Lösung. Wir können nur bei uns beginnen, wenn wir wollen, dass es besser wird. In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Dann müssen wir auch etwas dafür tun. (Michael Völker, 3.3.2024)