Der Versuch von iranischen Offiziellen, von Religionsführer Ali Khamenei abwärts, die Iraner und Iranerinnen mit nationalistischen und sogar religiösen Appellen in größeren Mengen an die Urnen zu bringen, ist gescheitert: Obwohl die vorigen Parlamentswahlen im Jahr 2020 in die Corona-Zeit fielen, war die Wahlbeteiligung am Freitag noch niedriger. Offiziell gaben 41 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Aber in den großen Städten, allen voran Teheran, waren es viel weniger, manche zweifeln sogar die gemeldeten 24 Prozent an.

Die Tageszeitung "Hamshahri" will die Wahlen als Ohrfeige – mit einem Wahlzettel – für US-Präsident Joe Biden sehen. Dabei war die Wahlbeteiligung so schwach wie noch nie, also eher eine Ohrfeige fürs Regime.
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Der dafür zuständige Wächterrat hatte im Vorfeld massenhaft Kandidaten disqualifiziert. Zur Wahl stand nicht nur das Parlament mit 290 Sitzen, sondern auch der Expertenrat. Die 88 Mitglieder des auf acht Jahre gewählten Gremiums bestimmen den religiösen Führer – und der seit 1989 amtierende Ali Khamenei ist 84 Jahre alt und krank. Allerdings gibt es in der Islamischen Republik auch informelle Machtzentren, die de facto darüber entscheiden werden, wer nach den Wahlen übernimmt.

Abgestrafte Topkandidaten

Die Wahlen wurden vom Regime dafür genützt, den Expertenrat zu verjüngen, der 97-jährige Vorsitzende Ahmed Jannati darf in Pension gehen. Liberaler wird der Rat deswegen nicht. Nur Kandidaten wurden zugelassen, von denen erwartet wird, dass sie im Fall des Ablebens Khameneis keine Schwierigkeiten machen und nicht auf reformerische Ideen kommen. Allerdings muss das Regime feststellen, dass manche Wähler und Wählerinnen sogar den ihnen vorgegebenen engen Rahmen nützten: Topkandidat Sadegh Amoli Larijani, Vorsitzender des Schlichtungsrats und als neuer Expertenratschef im Gespräch, wurde abgestraft. Ein schlechtes Ergebnis erzielte im Parlament auch dessen bisheriger Sprecher Mohammed Bagher Ghalibaf. Zu Wochenbeginn war die Auszählung noch nicht abgeschlossen. Durch die Auswahl der Kandidaten ist ohnehin sichergestellt, welche politische Richtung gewinnt.

Die Disqualifizierungen alleine gaben jedoch nicht den Ausschlag für das geringe Interesse an den Wahlen: Es ist der Frust über Stagnation und die schlechte soziale und wirtschaftliche Lage, über Korruption und Nepotismus – und der gewalttätigen Niederschlagung der Proteste nach dem Tod der jungen Kurdin Mahsa Amini im September 2022. Sie war nach ihrer Festnahme wegen eines schlampig getragenen Kopftuchs gestorben, mutmaßlich durch Polizeigewalt (was das Regime dementiert). Von Frauen angeführte, aber von vielen anderen Gruppen unterstützte monatelange Demonstrationen waren die Folge. Trotz der Repression hat sich das Straßenbild zumindest im modernen Norden Teherans seither noch weiter verändert, viele Frauen lassen sich nicht mehr einschüchtern. Wie auf das Kopftuchgebot pfiffen viele von ihnen auf die Wahlen. Für Boykottaufrufe setzte es aber auch Verhaftungen.

Der Tod Aminis fand bereits im Kontext einer Wende zur schärferen Durchsetzung von "islamischen Werten" statt, die nach der ebenso streng regulierten Wahl von Ebrahim Raisi zum iranischen Präsidenten im Juni 2021 eingeleitet wurde. Raisi gilt als verlässliche Säule Khameneis. Er bekam auch einen sicheren Platz für die Wahl zum Expertenrat, während der frühere Präsident Hassan Rohani, ein aus dem Sicherheitsestablishment stammender Pragmatiker, der jahrelang im Expertenrat saß, nicht einmal mehr antreten durfte. Raisi (64) wird auch verschiedentlich als möglicher Khamenei-Nachfolger genannt, neben Khameneis Sohn Mujtaba (54).

Angst vor dem Übergang

Eigentlich ist es ein Klassiker: Ein autoritäres Regime weiß, dass es in Bälde mit einem Übergangsszenario konfrontiert werden wird – in diesem Fall das Abtreten Khameneis –, will nichts dem Zufall überlassen und zieht die Zügel an. Ishaan Tharoor schreibt in der "Washington Post" sinngemäß von einer "Wagenburg", in der sich das Regime vor den Iranern und Iranerinnen, von denen es immer mehr wirtschaftlich schlecht geht, zurückgezogen hat. Die Islamische Republik ist heuer 45 Jahre alt, Khamenei hat bereits 25 Jahre länger regiert als Revolutionsführer Ruhollah Khomeini (1979–1989). Die Idee der "islamischen Revolution" soll mit aller Gewalt in die Zukunft perpetuiert werden, auch wenn sie im Leben vor allem der urbanen Jungen überhaupt keine Rolle mehr spielt.

Khamenei tritt als gütiger Alter auf, auch wenn er im Sinne von "nationaler Sicherheit" und den "Feinden, die zuschauen" zur Wahlbeteiligung mahnte. Gleichzeitig wurde vor den Wahlen Shervin Hajipour, dessen Lied "Baraye" zur Hymne der Proteste von 2022/23 wurde, zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Nicht zumuten will das Regime den Menschen allerdings offenbar eine offene kriegerische Auseinandersetzung mit Israel und den USA im Zusammenhang mit dem Gazakrieg. So etwas wäre wohl für die Stabilität, die es für einen gemanagten Übergang in die Post-Khamenei-Zeit braucht, kontraproduktiv. (Gudrun Harrer, 4.3.2024)