Am Tag danach ist alles andere als klar, was am Freitagabend in einer Veranstaltungshalle in der Peripherie von Moskau wirklich geschehen ist: außer dass es Terrorismus war, blanker Terror, der zahllosen Menschen, die einen unbeschwerten Abend im einer Konzerthalle verbringen wollten, das Leben zerstörte. Die Anzahl der Toten wird steigen. In den Social Media wurde das Großattentat sofort in den Kontext des russischen Kriegs gegen die Ukraine eingebettet: von den einen als ukrainische Tat, von den anderen als "False flag"-Operation des russischen Geheimdienstes.

Die ausgebrannte "Crocus City Hall" an der Moskauer Peripherie am Samstagvormittag.
via REUTERS/MOSCOW NEWS AGENCY

Von Personen, die sich mit internationalem Terrorismus beschäftigen, wurde da längst schon - auch angesichts der Vorgehensweise der Täter - eine andere Option genannt. Inzwischen hat sich der "Islamische Staat Provinz Khorasan" (IS-K) auf mehreren seiner Kanäle bekannt. Die Täterschaft ist plausibel, gleichzeitig - das muss man betonen - noch nicht gesichert. Aber wie Oberst Markus Reisner in einer ersten Reaktion Freitagabend zum STANDARD sagte: "Russland wird entscheiden, wie es den Anschlag interpretiert und nutzt." Das kann eine Eskalation Wladimir Putins auch an einer ganz anderen Front bedeuten.

Über Zentralasien hinausgewachsen

Der "Islamische Staat - Khorasan" entstand ursprünglich als Sammelbecken frustrierter Taliban, denen die eigene nationalreligiöse Bewegung nicht international-jihadistisch genug angelegt war. Als regionaler Ableger des IS führte der IS-K lange ein internationales Schattendasein, bevor er über Afghanistan und Zentralasien hinauswuchs. Als sein kommendes Operationsgebiet wurde in den vergangenen Wochen vermehrt Afrika genannt, aber Russland - immer ein wichtiger Akteur in Zentralasien, aber auch vermehrt im Nahen Osten, Stichwort Syrien - war für die Propaganda des "Islamischen Staats" stets ein Thema.

Vor allem im Westen war die ganze Aufmerksamkeit auf den "arabischen" IS konzentriert, auch wenn in Syrien und im Irak, wo er vor zehn Jahren ein riesiges Territorium kontrollierte, immer schon IS-Kämpfer aus Zentralasien und auch aus dem Kaukasus, besonders viele Tschetschenen, eingesetzt waren. Mittlerweile ist der Name "Khorasan" und die Realität, dass IS-Terroristen aus Staaten wie Tadschikistan stammen können, längst bei uns angekommen: Vergangenes Jahr wurden Anschlagspläne gegen den Kölner Dom und den Stephansdom in Wien bekannt.

Der Kampf gilt allen

Mit dem vorherrschenden bipolaren politischen Denken ist das nicht leicht zu verstehen: Da gibt es eine weltweit mächtige Terrororganisation, die sowohl den USA und allen seinen Verbündeten als auch Russland mit der antiwestlichen Politik Putins feindlich gesinnt ist. Die alte Formel "Dein Feind ist mein Freund" gilt hier nicht, oder nur in sehr begrenzten Konstellationen.

Für globale Jihadisten war zwischen Washington und Moskau jedoch nie ein großer Gedankensprung. Der Kampf galt und gilt allen: dem Kommunismus, dem "westlichen Imperialismus", den Großmachtpolitiken von Russland und China, die islamistische Strömungen in ihren eigenen Staaten bekämpfen, aber sie gilt auch Staaten mit "islamischen" Führungen wie dem Iran und Saudi-Arabien. Das letzte Großattentat des IS-K fand Anfang des Jahres typischerweise in der Islamischen Republik Iran statt, dessen Schiitentum für die IS-Ideologie als Häresie gilt und die mit Russland verbündet ist.

Aber selbst wenn die Autorenschaft des IS-K bestätigt werden sollte, werden die Theorien und die bewusst gesetzten Erzählungen, wer für den Anschlag in Moskau verantwortlich ist, weiter Blüten treiben. Sollte Putin den Anschlag zum Vorwand nehmen, in der Ukraine noch einmal die Eskalationsschraube anzudrehen, wird für viele Menschen die Sicherheit, dass die "Crocus City Hall" eine russische Geheimdienstoperation war, steigen. Genauso werden viele Russen und deren Verbündete davon überzeugt sein, dass eine verzweifelte Ukraine, der im Krieg die militärischen Mittel ausgehen, dahintersteckt. In weiten Teilen des globalen Südens grassiert ohnehin die Verschwörungstheorie, dass der IS eine US-Kreation ist. (Gudrun Harrer, 23.3.2024)