Zwei Brüder, gefangen in ihrer eigenen Geschichte: Valene (Michael Maertens, li.) und Coleman (Roland Koch) in
Zwei in der irischen Einöde gefangene Brüder: Valene (Michael Maertens, li.) und Coleman (Roland Koch) in "Der einsame Westen" im Akademietheater.
Matthias Horn

"Gib, so wird dir gegeben“, zitiert Pater Welsh (Itay Tiran) die Bibel. Meist aber wird dir nur eine auf den Schädel zurückgegeben, und die Welt erweist sich um keinen Deut besser. Solche Bibelsprüche holt der depressive, in immer kürzeren Abständen von Glaubenskrisen geplagte Seelsorger sowieso nur hervor, wenn er selbst dringend Schnaps braucht.

Pater Welsh, diese tragische Figur, die im verlassenen Galway auf noch Tragischeres blickt, gehört zum Kosmos des oscargekrönten irischen Autors und Filmemachers Martin McDonagh (The Banshees of Inisherin; Brügge sehen … und sterben?, Three Billboards Outside Ebbing, Missouri). Als Dramatiker und Drehbuchschreiber bohrt er sich seit Beginn seiner Karriere in den 1990ern in die niederdrückenden Momente menschlichen Daseins hinein. In seinen Texten ringen die (meist männlichen) Figuren auf schwarzhumorige Weise mit ihrem krisenhaften eigenen Selbst.

In der aktuellen Akademietheater-Inszenierung Der einsame Westen (1997) geben sich zwei dauerstreitende, erwachsene Brüder den Rest. Dem Theaterabend wurde dank guter Schauspielkomik, anschaulicher Wohntristesse und einer konzisen Regie Mateja Koležniks, die Witze keiner billigen Komödie preisgibt, bei der Premiere am Freitag freudig applaudiert.

Alk-Stürze

Roland Koch und Michael Maertens geben das zerstörerisch aneinandergekettete Brüderpaar, das soeben von der Beerdigung des Vaters heimkehrt – völlig betrunken, versteht sich. Der eine, Coleman (Koch), hatte den Vater irrtümlich erschossen. Der andere, Valene (Maertens), muss ihn mit dieser Lüge vor dem Gefängnis schützen. Und schlägt daraus für sich sofort Tribut. Alles Erbe gehört nun ihm, sämtliche Gegenstände im ranzig-braunen, sich auf der Drehbühne auffächernden, schier luftlosen Haus (Bühne: Raimund Orfeo Voigt, Dimitrij Muraschov) markiert der Heiligenfigurensammler mit dem Anfangsbuchstaben seines Namens.

An diesen beiden muss man verzweifeln. Weder der finstere Pater (Tiran), der exzellente Alk-Stürze hinlegt, noch die 17-jährige, die Rolle des Sexobjekts einnehmende Schnapsverkäuferin Girleen (Lili Winderlich) können dieses kauzige und lebensgefährlich zerstrittene Brüderpaar zur Vernunft bringen. Sie sind banal, niederträchtig, faul, gemein und unbelehrbar. Es hat sie in dieser hinterwäldlerischen Gegend leider niemand je gelehrt, mitfühlend zu sein oder das Leben in die Hand zu nehmen. Vor uns stehen zwei Fünfjährige in Körpern von längst Erwachsenen, die sich erbittert um Chips prügeln und jederzeit zum Gewehr greifen.

Schlampig fühlen

Die kindische Sturheit ist alles, was sie haben. Mit ihr treten sie zueinander in Kontakt. Die Tragik dieser Unbedarftheit wissen Maertens und Koch mit Herz auszuspielen. Mit der gleichen Schlampigkeit, mit der sie die Trainingshose tragen, reden und fühlen sie. Autor McDonagh, der die irische Einöde samt des altmodischen Katholizismus gut kennt, zeigt die Brüder als Gefangene ihrer eigenen Geschichte. Als solche bedauert man sie in Koležniks Inszenierung. Die Welt hat sie vergessen, sie tragen noch Frisuren und Hemden (Kostüme: Ana Savić-Gecan) aus vorangegangenen Jahrzehnten. Zu ihrem Vergnügen abseits des Alkohols gehört es einzig, die Cremepröbchen aus den Illustrierten auf der Haut zu testen. So etwas muss auf einer Bühne einfach funktionieren - und tut es auch.

Der einsame Westen erlebte 1999, zwei Jahre nach Erscheinen, in Graz seine deutschsprachige Erstaufführung. McDonagh, der allseits gepriesene Dialogstückkönner, hat sich inzwischen zunehmend dem Film zugewendet. Aber auch ein Frühwerk wie dieses – es ist der letzte Teil einer im selben Dorf spielenden Trilogie –, beweist heute seine Gültigkeit. Koležniks Mikrostudie, die mit jedem Drehbühnendreh den Blick auf Details dieser Existenzen richtet, stellt bei allem, nur selten überschießenden Witz, die unsäglichen und dabei ganz üblichen menschlichen Verhärtungen in den Raum. Ein Theater zum genauen Hinsehen. (Margarete Affenzeller, 23.3.2024)