Die Jesusfigur in Johann Sebastian Bachs "Johannes-Passion" mit einer Szene aus dem Film "Pirates of the Caribbean" zu vergleichen, ist eher ungewöhnlich. Der deutsche Tenor Julian Prégardien hat es unlängst im Interview mit einer deutschen Wochenzeitung getan.

Ihn erinnern die sinistren Klänge am Beginn der Passion (1724, BWV 245) an den Unterwassermarsch der Piraten im ersten Teil der Filmserie mit dem Untertitel "The Curse of the Black Pearl" (2003): Wie diese Untoten schreite dieser Jesus, dem die Gläubigen "Herr! Herr! Herr" hinterherrufen.

Johannespassion Osterfestspiele in Salzburg
Die sinistren Klänge am Beginn der Passion erinnern an den Unterwassermarsch der Piraten im ersten Teil der Filmserie "Pirates of the Caribbean".
Bernd Uhlig/DER STANDARD

"Ich finde keine Schuld an ihm"

Eine zwar nicht gerade popkulturelle, aber doch auf dasselbe Motiv gerichtete Verbildlichung der "Johannes-Passion" hat die renommierte Berliner Choreografin Sasha Waltz am Freitag zum Auftakt der diesjährigen Salzburger Osterfestspiele präsentiert. Da schaukelt sich der Mob auf. "Kreuzige, kreuzige!", ruft er in Richtung des Präfekten Pontius Pilatus, der Jesus verteidigt: "Ich finde keine Schuld an ihm."

Bachs Werk, so Waltz, thematisiert auch "Fanatismus und Ausgrenzung – es geht um das Spektakel der Gewalt und die Befriedigung der Sensation". Das Publikum sieht, wie sich Meute in ihre Wut hineinsteigert, wobei die Wutbürger von Pilatus fordern, eher den Mörder Barrabas freizulassen als Jesus.

Man kann nicht anders, als an den Mob zu denken, der Anfang 2021 das Kapitol in Washington stürmte, oder an den versuchten Angriff auf den Berliner Reichstag im August davor. Oder an die hetzerischen "Shitstorms" in den sozialen Medien.

Nähen weißer Kleidungsstücke

Daher scheint es absolut schlüssig, dass sich die Osterfestspiele unter Nikolaus Bachler für eine getanzte "Johannes-Passion" entschieden haben: Denn das Erleiden und Zufügen von Schmerz ist untrennbar mit Körpern – gerade den menschlichen – verbunden. Letztlich sind es immer Körper, die andere Körper foltern, vergewaltigen, verbrennen. Oder, wie im Fall der biblischen Figur Jesus Christus, an einem Kreuz sterben lassen.

Nackt betreten Sasha Waltz’ Tänzerinnen und Tänzer die Bühne der Salzburger Felsenreitschule, denn Nacktheit ist im Tanz meist gleichbedeutend mit dem "nackten Leben", wie es der italienische Philosoph Giorgio Agamben ab 1995 in seiner berühmt gewordenen Buchreihe "Homo sacer" analysiert hat. Noch bevor Bachs Klänge einsetzen, nehmen diese bloßen Körper Platz vor Nähmaschinen und nähen sich weiße Kleidungsstücke zusammen.

Ein nüchterner Beginn. So zurückgenommen wie das Bühnenbild, mit dem sich Sasha Waltz begnügt. Kaum etwas lenkt den Blick von dem Tanzensemble ab respektive den Musikerinnen und Musikern der Cappella Mediterranea (Solovioline: Alfia Bakieva) sowie dem Choeur de Chambre de Namur – mit Countertenor Logan Lopez Gonzalez – und dem Choeur de l’Opéra de Dijon.

Expressive Elemente

Unter Leonardo García Alarcóns musikalischer und Waltz’ choreografischer Leitung wird Bachs Barockwerk zu einer Erzählung der Gegenwart. Den Evangelisten singt der Tenor Valerio Contaldo, den Sopran Sophie Junker. Und weil Sasha Waltz, die ihre eigene Kompanie bereits vor 31 Jahren gegründet hat, so viel Erfahrung besitzt, gelingt es ihr beinahe durchgehend, die Grenzen zwischen Tänzern, Chören und dem Orchester plausibel verschwimmen zu lassen.

Jesus erhält neben der Stimme eines Sängers auch die Körper einer Tänzerin und eines queeren Tänzers (Jaan Männima). Der ausholende Tanzstil der Choreografin spielt expressive Elemente aus und wird dann am stärksten, wenn sich die Darstellerinnen und Tänzer zu Tableaux vivants versammeln: im Aneinanderrücken und Posieren.

Nicht für alle Situationen hat Waltz optimale Lösungen gefunden. Manchmal legt sie den einen oder anderen Sänger einfach nur auf der Bühne ab. Aber grundsätzlich gelingen, vor allem zu Beginn und gegen Ende hin, Bilder, die perfekt funktionieren. Wiederzusehen ist diese "Johannes-Passion" am 30. und 31. März bei seiner Frankreich-Premiere an der Oper von Dijon. (Helmut Ploebst, 23.3.2024)