Am Sonntag begaben sich zahlreiche Menschen zur Crocus City Hall, wo am Freitagabend bei einem Anschlag mehr als 130 Menschen getötet wurden, um Blumen niederzulegen. Für Expertinnen und Experten kommt der Terrorüberfall des "Islamischen Staats Provinz Khorasan" nicht unerwartet.
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Die russische Propaganda nützt den Terrorüberfall auf die Crocus City Hall am Freitagabend für die Mobilisierung gegen die Ukraine: Der Aspekt, dass der "Islamische Staat" mit einem aufwendigen Großattentat auf der terroristischen Bühne zurück ist, gerät dabei fast in den Hintergrund. Von internationalen Fachleuten wird die Authentizität der Bekennerschreiben nicht bezweifelt, die der zentralasiatische Zweig der Organisation, der "Islamische Staat Provinz Khorasan" (ISPK oder IS-K), auf unterschiedlichen Kanälen veröffentlicht hat.

Vor dem IS-K wurde zuletzt vermehrt gewarnt, mit Anschlägen in Europa und Asien sei in den nächsten Monaten zu rechnen, hieß es von Geheimdiensten. Auch Afrika gilt als kommendes Operationsgebiet. Aus den USA sollen im Vorfeld des Moskauer Überfalls konkrete Warnungen an Russland gegangen sein, die – zumindest öffentlich – nicht ernst genug genommen wurden. Vielleicht dachte man auch, mit der Verhinderung eines Attentats auf eine Synagoge Anfang März in Moskau sei die Gefahr abgewendet.

Auf Russland "fixiert"

Dass Russland zum Ziel wurde, überrascht Experten keineswegs. Reuters zitiert Colin Clarke vom Soufan Center, einem New Yorker Thinktank, der von einer aktuellen "Fixierung" des IS-K auf Russland spricht. Die schlechte Behandlung von Muslimen – etwa in Syrien, wo Moskau das Assad-Regime unterstützt – kommt demnach in den Propagandakanälen des IS-K in den letzten Jahren überdurchschnittlich oft vor. Auf die russische Botschaft in Kabul in Afghanistan, dem Kernland des IS-K, wurde im September 2022 ein Selbstmordanschlag verübt.

Das heißt nicht, dass der IS-K nicht auch in Europa aktiv wäre. Im Zusammenhang mit vermuteten Attentatsplänen in Wien und Köln – in beiden Städten sollte der Dom im Visier stehen – gab es vor Weihnachten Verhaftungen von mutmaßlichen IS-K-Angehörigen. Da wie dort waren Tadschiken unter den Verdächtigen bzw. mutmaßlichen Tätern.

Khorasan ist der Name einer historischen Provinz in Zentralasien. Der IS-K entstand ursprünglich als Sammelbecken frustrierter Taliban, denen die eigene nationalreligiöse Bewegung nicht international-jihadistisch genug angelegt war. Da die Taliban paschtunische Nationalisten sind, sind andere Ethnien in ihrem Herrschaftsbereich – eben Tadschiken, aber auch Usbeken – besonders leicht für die Propaganda des IS-K ansprechbar.

Der IS-K gilt heute als jener Zweig des "Islamischen Staats" der am meisten rekrutiert. Dabei steckte er, wie Antonio Giustozzi im Jänner für das International Centre for Counter-Terrorism (ICCT) in Den Haag schreibt, 2023 noch in einer ernsten Krise. Die Taliban in Afghanistan erzielten militärische Erfolge gegen ihren Konkurrenten, und auch die Türkei, wo IS-Umtriebe jahrelang geduldet wurden, griff hart gegen sie durch. Das führte zu Finanzierungslücken und sinkendem Zulauf. Langsam erholt sich der IS-K aber wieder, wozu interne Spannungen unter den afghanischen Taliban und zwischen afghanischen und pakistanischen Taliban beitragen könnten, schreibt Giustozzi, der Autor einer Monografie über den IS-K ist.

Vor allem im Westen war die ganze Aufmerksamkeit lange auf den "arabischen" IS konzentriert, auch wenn in Syrien und im Irak, wo er vor zehn Jahren ein riesiges Territorium kontrollierte, IS-Kämpfer aus Zentralasien und aus dem Kaukasus, besonders viele Tschetschenen, eingesetzt waren. Dass der "Islamische Staat" gleichzeitig sowohl den Westen als auch das antiwestliche Russland angreift, ist mit dem vorherrschenden bipolaren politischen Denken schwer vereinbar. Die Formel "Der Feind meines Feindes ist mein Freund" gilt hier nicht, oder nur in sehr begrenzten Konstellationen.

Afghanistan 1979–1989

Für globale Jihadisten war zwischen Washington und Moskau nie ein großer Gedankensprung. Die ideologischen Vorgänger des IS kämpften in Afghanistan 1979–1989 gegen die sowjetische Besatzung, mit US-Hilfe. Den Abzug Moskaus 1989 sahen die Mujahedin als Triumph, der sie zu ihrem zukünftigen Kampf gegen den "westlichen Imperialismus" ermutigte. Genauso gilt der Kampf jedoch den Großmachtpolitiken von Russland und China, die islamistische Strömungen in ihren eigenen Ländern bekämpfen. Und sie richtet sich auch gegen Staaten mit "islamischen" Führungen wie Iran und Saudi-Arabien. Das letzte Großattentat des IS-K fand im Jänner in der Islamischen Republik statt, deren Schiitentum für die IS-Ideologie als Häresie gilt und die mit Russland verbündet ist.

Ungeachtet der schweren IS-Attentate mit hunderten Toten, die jahrelang Europa erschütterten, grassiert im Globalen Süden die Verschwörungstheorie, dass der IS eine US-Kreation ist, um im Nahen Osten intervenieren zu können. Sie fußt unter anderem darauf, dass die USA nach dem Aufstieg des IS in Syrien und im Irak dort erneut eine militärische Präsenz etablierten, die bis heute andauert. (Gudrun Harrer, 24.3.2024)