Ketevan Papava tanzt in der Premierenbesetzung hinreißend die Protagonistin Marguerite, und Timoor Afshar als ihr Lover Armand steht ihr kaum nach.
Ketevan Papava tanzt in der Premierenbesetzung hinreißend die Protagonistin Marguerite, und Timoor Afshar als ihr Lover Armand steht ihr kaum nach.
Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Wer bisher gedacht hat, die Form des Handlungsballetts wäre längst Geschichte, sollte sich doch vorsichtshalber einmal John Neumeiers "Kameliendame" in der Staatsoper anschauen. Der Altmeister aus Hamburg hat sein Stück zur Musik von Chopin selbst mit der Wiener Compagnie einstudiert, und das Publikum war von der Premiere am Sonntag hörbar überzeugt.

Erzählballette so zu gestalten, dass sie über mehr als zwei Stunden dramaturgisch und choreografisch halten, ist eine Herausforderung, die nur wenige Ausnahmetalente bewältigen. Neumeier ist es gelungen, aus dem Roman "Die Kameliendame" von Alexandre Dumas dem Jüngeren eine nachvollziehbare Geschichte zu choreografieren, die ganz ohne Worte auskommt.

Neu im Repertoire des Wiener Staatsballetts

Uraufgeführt wurde das Stück bereits 1978. In Wien war es mit dem Hamburg Ballett vor zehn Jahren zu sehen, jetzt gehört es erstmals zum Repertoire des Wiener Staatsballetts. Und das hat alles gegeben, um "Die Kameliendame" von ihrer besten Seite zu zeigen. Ketevan Papava tanzt in der Premierenbesetzung hinreißend die Protagonistin Marguerite, und Timoor Afshar als ihr Lover Armand steht ihr kaum nach. Zu den herausragenden Nebenrollen zählt Marguerites einfühlsame Kammerfrau, verkörpert von Adi Hanan.

Im Handlungsballett können Tänzerinnen und Tänzer ihre schauspielerischen Qualitäten ausspielen und müssen dabei die richtige Intensität finden. Das ist gleichermaßen etwa Ioanna Avraam als elegante Prudence und Elena Bottaro als kecke Olympia gelungen. Hyo-Jung Kang dagegen hat ihre Figur der Manon Lescaut zuweilen ins Pathetische kippen lassen.

"Die Kameliendame" besticht durch historisierende Kostüme.“
Wiener Staatsballett/Ashley Taylor

Das Stück selbst hält auch nach 46 Jahren. Die Dramaturgie überzeugt vor allem im Prolog und im ersten Akt. In den beiden folgenden Akten allerdings sind die großen Pas de deux zu lang geraten, und sie überzeugen choreografisch nicht durchgehend. Jürgen Roses historisierende Kostüme sehen beeindruckend aus, stellen den Tänzern aber auch echte Fallen, vor allem wenn sich luftige Frauenröcke in die Gesichter der hebenden Männer picken.

Verkorkstes Upper-Class-Patriarchat

Was "Die Kameliendame" gegenwärtig zu sagen hat? Der Stoff zeigt einen Aufriss emotionaler und sozialer Verwerfungen im verkorksten Upper-Class-Patriarchat des 19. Jahrhunderts. Die Ähnlichkeit mit der Hybris heutiger Oligarchen ist offensichtlich: im protzigen Bling-Bling aus Herrschsucht und kostspielig billiger Verführung, das bestens zum aktuellen Neoliberalismus passt. Noch dazu gilt das Spiel mit falschen Gefühlen und die unerfüllte Sehnsucht nach echter Liebe heute genauso wie in der Handlung der Geschichte vom Leben und dem Tod der Marguerite Gautier.

Formal fordert dieses Ballett eine Tanzgegenwart heraus, die auf dieser Ebene seit langem kaum noch Neues hervorbringt. Gerade entwickeln zeitgenössische Stagnation und historisierende Vergewisserung überraschende Dynamiken, die von den gesellschaftlichen Krisen unserer Zeit befeuert werden. (Helmut Ploebst, 25.3.2024)