Das Wort "Leitkultur" vermittelt eine Hierarchie unter Kulturen, die Überlegenheit der vorherrschenden. Es ruft Ablehnung hervor. Lassen wir es also beiseite. Denn tatsächlich ist eine Debatte über den gesellschaftlichen Grundkonsens in Österreich notwendig. Allein schon deshalb, weil das Zusammenleben in einem Staat nie fertig verhandelt ist und neue Herausforderungen ständige Anpassung notwendig machen.
Das geltende Recht ist der wichtigste Ausdruck dieses Konsenses. Einfache Gesetze, aber vor allem die Bundesverfassung halten Demokratie, die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Menschenrechte, Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit fest. Diese Regeln definieren die österreichische Identität. Aber sie sind Zielvorgaben, die nicht immer eingehalten werden.
Eingeschränktes politisches Sichtfeld
Auf dieser Basis muss eine Debatte über den österreichischen Konsens aufsetzen: Frauenrechte müssen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft etwa immer wieder und mit Nachdruck eingefordert werden. Wie können wir sicherstellen, dass sie in allen Teilen der Bevölkerung akzeptiert werden – und zwar uneingeschränkt? Sollte die ÖVP tatsächlich glauben, dass hier unter autochthonen Männern kein Handlungsbedarf besteht, wäre das Ausdruck eines stark eingeschränkten politischen Sichtfelds.
Dass die Kanzlerpartei nicht überall gleich genau hinschaut, ist offenkundig: Sie fokussiert sich in dieser Debatte ausschließlich auf migrantische Bevölkerungsgruppen, als gäbe es unter schon lange ansässigen Österreicherinnen und Österreichern keine Probleme.
Lächerliche Kampagne
Selbstverständlich muss der Staat Menschen, die aus Gesellschaften mit ganz anderen Regeln kommen, den mitteleuropäischen Konsens deutlich vermitteln. Aber wie soll das gehen, wenn diese Vorstellungen unter "Einheimischen" gar nicht unumstritten sind? Dass die Volkspartei diesen Teil der Bevölkerung gänzlich außer Acht lässt, beweist, dass ihr Ziel nicht eine breite Debatte ist. Sondern ihr die parteipolitische Profilierung beim Migrationsthema am Herzen liegt.
Mit der begleitenden Social-Media-Kampagne gibt die Volkspartei ihre Idee der österreichischen Identität überhaupt der Lächerlichkeit preis. Die Vermessung der hiesigen Kultur "von Blasmusik bis Philharmoniker" ist in ihrer Plumpheit wenigstens harmlos. Aber die Kanzlerpartei behauptet auch allen Ernstes: "Wer unsere Art zu leben ablehnt, muss gehen!" oder "Wer glaubt, einer Frau nicht die Hand zu geben, weil sie 'unrein' ist, muss gehen." (sic!). Als könnte man Menschen wegen eines verweigerten Handschlags oder der Ablehnung eines Lebenskonzepts außer Landes schaffen. Und das von einer Partei, die von der Rechtsstaatlichkeit als Teil der österreichischen Identität spricht.
Echte Aufgaben für den Konsens
Wenn die Volkspartei doch noch auf die Idee kommt, sich ernsthaft für Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der gesellschaftspolitischen Grundsätze zu engagieren, stünden einige Ansatzpunkte bereit: Sie könnte in ihren Landesparteien für einen konsequenten Umgang mit rechtsextremen Parteien sorgen; sie könnte ihre Bemühungen um ein Aktenzitierverbot für die freie Presse einstellen; und sie könnte die Korruptionsaffären ihrer Parteimitglieder aufarbeiten. (Sebastian Fellner, 28.3.2024)