Wer in Istanbul gewinnt, kann die ganze Türkei gewinnen, soll Recep Tayyip Erdoğan einmal gesagt haben: Sollte der türkische Präsident den Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu bei den Bürgermeisterwahlen 2019 für einen revidierbaren Unfall in der politischen Geschichte seines Landes gehalten haben, wurde er am Sonntag eines Besseren belehrt. In Istanbul ist Erdoğan geboren, er hat dort seine politische Karriere begonnen – und seine schlimmsten Niederlagen kassiert.

Wenn Recep Tayyip Erdoğan seine Amtszeit zu Ende bringt – anders als während des Wahlkampfs dürfte seine Gesundheit jetzt wieder einigermaßen stabil sein –, dann wird er die Türkei mehr als ein Vierteljahrhundert regiert und stark verändert haben.
AFP/ADEM ALTAN

Der Oppositionspolitiker İmamoğlu (CHP) bleibt nicht nur Oberbürgermeister der heimlichen Hauptstadt der Türkei. Er ist endgültig zur Zukunftshoffnung jener Türken und Türkinnen aufgestiegen, die bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen vergeblich auf einen Machtwechsel hofften. Auf nationaler Ebene ist die CHP 2023 gescheitert, ein knappes Jahr später dominiert sie alle großen Städte und hat Erdoğans AKP überholt.

Zwei Zukunftskonzepte

Am Sonntag stand Erdoğan zwar nicht persönlich als Kandidat zur Verfügung, dennoch wurde die Wahl als Duell zwischen ihm und İmamoğlu gesehen – und zur Entscheidung zwischen zwei Zukunftskonzepten für die Türkei hochstilisiert. Diese Sicht dürfte jedoch zu hoch gegriffen sein. Die AKP wurde nicht dafür abgestraft, dass sie islamisch, rechtsnationalistisch und konservativ ist, sondern weil sie keines ihrer Wahlversprechen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich halten konnte.

Im Jahr 2023 setzten die meisten Wähler und Wählerinnen noch darauf, dass die AKP als herrschende Partei die Mittel in der Hand hat, ihr Leben zu verbessern. Diesen Glauben haben sie verloren. Dementsprechend groß sind die Erwartungen an die CHP, die sie erst erfüllen muss.

Davon, dass İmamoğlu der bessere CHP-Spitzenkandidat gewesen wäre, waren schon 2023 viele überzeugt. Bis zur nächsten Chance, den nächsten nationalen Wahlen, sind es noch vier Jahre. Bis dahin hat die AKP weiter die Macht in den staatlichen Institutionen, Erdoğans Leute sitzen in den Medien, dem Sicherheitsapparat, der Justiz. Wenn er seine Amtszeit zu Ende bringt – anders als während des Wahlkampfs dürfte seine Gesundheit jetzt wieder einigermaßen stabil sein –, dann wird er die Türkei mehr als ein Vierteljahrhundert regiert und stark verändert haben.

Radikalisierende Wirkung

Immerhin bekommt Erdoğan vor der letzten Etappe einen Schuss vor den Bug: Für den weiteren Umbau des Staats, für eine neue konservative Verfassung mit mehr Islam, Nationalismus und Autoritarismus hat er zwar eine Mehrheit im Parlament, aber nicht bei den Menschen in den urbanen Zentren des Landes. Die großen Städte sind die Wirtschaftsmotoren der Türkei, an den starken weltoffenen Kommunen kann man nicht so einfach vorbeiregieren. Eine zu offene Feindschaft zu Istanbul und İmamoğlu könnte dessen Profil als Erdoğan-Herausforderer sogar stärken.

Erdoğan hat aber nicht nur an die sozialdemokratisch ausgerichtete CHP verloren, auch am extremen rechtsreligiösen Rand wächst die Konkurrenz. Die Neue Wohlfahrtspartei YRP, vom Sohn Necmettin Erbakans geführt, des ersten islamistischen Premiers der Türkei, fischte erfolgreich im AKP-Wählerteich. Hier zeigt wohl auch der Gazakrieg seine radikalisierende Wirkung. Es gibt Türken und Türkinnen, denen Erdoğans aggressive Anti-Israel-Rhetorik nicht reicht. (Gudrun Harrer, 1.4.2024)