Kann Jan Nepomnjaschtschi ein drittes Mal um die WM spielen?
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Toronto – Kandidatenturniere und Jan Nepomnjaschtschi: Das passt einfach zusammen. Der Russe, der bereits die entsprechenden Events der Jahre 2020 und 2022 gewonnen hatte, ist in Toronto mit drei Punkten aus vier Partien schon wieder ausgezeichnet gestartet. Mit zwei Arbeitssiegen mit den weißen Steinen über Alireza Firouzja und Vidit Santosh Gujrathi sowie zwei Schwarz-Remisen darf der Vize-Weltmeister den ersten Ruhetag des Turniers als alleiniger Führender verbringen.

Auf den Fersen sind ihm vorerst vor allem Fabiano Caruana und Dommaraju Gukesh: Der US-amerikanische Routinier und der indische Teenager trennten sich in ihrer direkten Begegnung in Runde vier unentschieden, nachdem der mit den weißen Steinen spielende Caruana in einer Italienischen Partie lange Zeit leichten Druck ausgeübt hatte, seinen Vorteil jedoch nicht entscheidend verdichten konnte.

Indische Läufer

Caruana und Gukesh notieren mit je einem Sieg und drei Remisen bei 2,5 Punkten. Der junge Inder wird sich am Ruhetag aber womöglich über eine wichtige vergebene Chance ärgern: In Runde drei hatte sich Gukesh gegen den nun führenden Nepomnjaschtschi einen deutlichen positionellen Endspielvorteil erarbeitet. Ein starkes indisches Läuferpaar sowie akuter Raummangel setzten Nepo gehörig zu. Doch dann ließ Gukesh ohne Not den Abtausch des letzten Turmpaars zu, wonach sich sein Vorteil nach und nach verflüchtigte: Remis.

Der Auftritt Nepomnjaschtschis folgt damit in Toronto bisher derselben Dramaturgie wie schon bei seinen letzten beiden Kandidatenturnier-Erfolgen: Steht der Russe besser, dann gewinnt er unweigerlich, steht er dagegen schlechter, so verstolpern seine Gegner die sich ihnen bietende Chance ein ums andere Mal.

Die Leiden des Streamers

Die größte Überraschung ist das bislang schwache Auftreten Hikaru Nakamuras. Der US-Amerikaner, der seit 2022 keine Partie im klassischen Schach mehr verloren hatte und als Mitfavorit galt, geriet schon in Runde zwei entsetzlich unter die Räder. Mit den weißen Steinen spielend sah er sich in einer Spanischen Partie mit einer theoretischen Neuerung seines Kontrahenten Vidit konfrontiert. Im Versuch, die Vorbereitung des Inders zu umschiffen, verlor Nakamura völlig den Faden und irrte bald mit nacktem König übers Brett, während sein gesamter Damenflügel noch in den Federn lag.

Nach nur 29 Zügen musste Weiß die Waffen strecken – so schmerzhaft hat man Nakamura kaum je verlieren sehen. Der Profi-Schach-Streamer biss jedoch die Zähne zusammen und präsentierte dem Online-Publikum die vernichtende Niederlage in seinem allabendlich aufgenommenen Analysevideo professionell und relativ emotionslos.

A Series of Unfortunate Choices
GMHikaru

Generell prägten neue Eröffnungsideen überraschend viele Partien der ersten Runden. Praggnanandhaa etwa war in Runde drei im innerindischen Duell mit Vidit mit einem verzögerten Jänisch-Gambit erfolgreich, für das sich in den Datenbanken schon nach einer Handvoll Zügen keine Vorbilder mehr finden ließen. Und Nepo baute seinen wichtigen Sieg in Runde vier auf eine starke Neuerung gegen die Berliner Verteidigung – einer Variante, die auch unter dem Namen "Berliner Mauer" firmiert, weil sie eigentlich seit vielen Jahren als weitgehend ausanalysiert und unüberwindlich galt.

Im Damenbewerb führt die chinesische Ex-Weltmeisterin Tan Zhongyi ebenfalls mit 3 aus 4. Erste Verfolgerin ist dort mit 2 1/2 Punkten Alexandra Gorjatschkina, die wie ihre Landsleute Jekaterina Lagno und Jan Nepomnjaschtschi in Toronto nicht unter russischer, sondern unter der neutralen Flagge des Weltschachbunds Fide antritt.

Bei noch zehn zu spielenden Runden ist der Zwischenstand nach Runde vier in beiden Bewerben naturgemäß nicht mehr als eine erste Momentaufnahme – deren Bedeutung aber auch nicht unterschätzt werden sollte: Laut Statistik lag der spätere WM-Herausforderer in der jüngeren Geschichte der Kandidatenturniere nach den ersten vier Runden immer im Plus. (Anatol Vitouch, 8.4.2024)