Wie es ihm gefällt: Fazil Say im Wiener Konzerthaus.
Wie es ihm gefällt: Fazil Say im Wiener Konzerthaus.
Konzerthaus/Suarez

Schon wieder die Goldberg-Variationen! Und wieder komplett anders! Im vergangenen November hatte Víkingur Ólafsson Bachs ausladendes Werk im großen Konzerthaussaal interpretiert: mustergültig, makellos, wohltemperiert – und doch in keinem Moment langweilig. Nun also Fazıl Say. Beim Türken wurde die Aria samt ihren 30 Veränderungen vom ersten Ton an zum Spielplatz, zum Theater, zur Burleske (in den Dur-Variationen), frei nach dem Motto: Posen, Possen, Pirouetten! Mal drängte sich eine Nebenstimme vorlaut in den Vordergrund, mal wurden kurze Phrasen mit dramatischem Make-up unterstrichen.

Weil Abwechslungsreichtum bei Says Interpretationen aber immer an erster Stelle steht, folgte auf eine knallhart rausgehämmerte Basslinie gern ein Abschnitt in fragilem Pianissimo. Alles war Amüsement und Überraschung – und doch, weil hochvirtuos, mit kantablem Ton und auch liebevoll dargeboten, kaum je vulgär oder marktschreierisch. Jedenfalls nicht auf zu grelle Weise, da Say auf einem eher weich intonierten Arbeitsgerät zu Werke ging.

Kasperliade und Aufblähung

In der eröffnenden Aria hatte der 54-Jährige sein Interpretationskonzept schon offenbart. Spielerisch und sinnlich, quasi improvvisando und mit spontanen dynamischen Eruptionen präsentierte Say das zarte Air, das "über seine Nachkommenschaft nachsichtige Unbekümmertheit an den Tag zu legen scheint" (Goldberg-Legende Glenn Gould): im großen Rahmen zwischen neckischer Kasperliade zu Beginn und finaler Aufblähung. Bei deren Wiederkehr zum Ende des 80-minütigen Stücks setzte Say noch eins drauf, hüllte das Geschehen großzügig in dichte Pedalwolken ein und zögerte die letzte Auflösung eine kleine Ewigkeit hinaus.

Purismus ist natürlich etwas anderes, aber muss immer alles puristisch sein? Das Publikum im Konzerthaus jubelte jedenfalls stehend über Says kindlich lebendige, unberechenbare, verführerische Erzählkünste. Denn wie die Lateinerin und der Lateiner wissen: Variatio delectat. (Stefan Ender, 18.4.2024)