Soldat vor einem Reaktor des AKW
Das Kernkraftwerk Saporischschja ist seit den ersten Kriegstagen in russischer Hand. Wer für die jüngsten Zwischenfälle verantwortlich zeichnet, lässt sich nicht genau eruieren.
AP

Das Atomkraftwerk Saporischschja ist wieder in die Schusslinie geraten. Am Donnerstag wurden der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) zufolge zum dritten Mal binnen weniger als zwei Wochen Drohnenangriffe auf das Trainingscenter, etwa einen halben Kilometer von Reaktor 1 entfernt, registriert. Dazu kommen mehrere weitere Angriffe, die zum Teil abgewehrt werden konnten, wie die IAEA in den vergangenen Tagen immer wieder berichtet hat. Am 7. April, als auch eines der Reaktorgebäude oberflächlich beschädigt wurde, begann die Welle an Zwischenfällen. Es handelt sich um die ersten Kampfhandlungen seit November 2022, die direkt am Gelände des AKW stattfanden.

Bereits Anfang der Woche hatte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi vor dem UN-Sicherheitsrat davor gewarnt, dass ein Atomunfall "gefährlich nahe" sei. Grossi sprach nun erneut von einer "sehr realen Gefahr eines schweren nuklearen Unfalls". Bisher hätten die Drohnenangriffe die nukleare Sicherheit am Standort nicht beeinträchtigt, die "rücksichtslosen Angriffe" müssten aber sofort eingestellt werden, von wem auch immer sie stammten. Beide Kriegsparteien werfen sich gegenseitig vor, einen Vorfall am AKW provozieren zu wollen.

Das mit einer potenziellen Leistung von sechs Gigawatt größte Atomkraftwerk Europas wurde kurz nach Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine vor mehr als zwei Jahren von russischen Truppen besetzt und später vermint. Seit September 2022 sind Teams der IAEA vor Ort, haben aber nur eingeschränkten Zugang. Seither ist das Kraftwerk heruntergefahren, allerdings befand sich abwechselnd ein Block im Warmzustand. In diesem Zustand produzierte der Reaktor keinen Strom, sondern Dampf, der für den Bedarf der Anlage verwendet wurde.

Cold Shutdown bringt Zeit

Nach dem neuerlichen Beschuss wurde nun auch der letzte der sechs Reaktorblöcke in einen Kaltzustand (Cold Shutdown) versetzt. "Das bedeutet, dass das Kühlwasser den Siedepunkt nicht mehr erreicht und der Kühlmittelbedarf entsprechend zurückgeht", sagt der Radioökologe Georg Steinhauser von der TU Wien. Doch auch in diesem abgekühlten Zustand entsteht Restwärme – schätzungsweise zehn Megawatt pro Reaktor, was einem größeren Forschungsreaktor entspreche. Trotz der Zerstörung des Staudamms Kachowka im Juni 2023 gibt es laut Steinhauser ein für die Abführung der Restwärme ausreichendes Wasserreservoir. "Es besteht also keine unmittelbare Gefahr einer Kernschmelze, wenn Anlagen rund um den Reaktor getroffen werden", sagt Steinhauser.

Ein leichter Beschuss könne schließlich vor allem technische Einrichtungen zur Kühlung, etwa Dieselgeneratoren oder Pumpensysteme, beschädigen. Da alle Reaktoren nun im Kaltzustand sind, sei das nicht mehr so ein dramatisches Szenario. Man hätte mehrere Tage Zeit, um darauf zu reagieren, bevor die Sicherheit gefährdet sei, sagt Steinhauser.

Grossi am Rednerpult
Rafael Grossi, Generaldirektor der Atomenergiebehörte IAEA, warnt vor einer "realen Gefahr eines schweren nuklearen Unfalls".
AFP/JOE KLAMAR

Doch wie hoch ist das Risiko für einen gravierenden Atomunfall, vor dem die IAEA so eindringlich warnt? "Es haben sicher beide Seiten ein ausreichendes Waffenarsenal, um die 1,2 Meter dicken Stahlbetonummantelungen der Reaktoren zu durchschlagen", sagt Steinhauser. "Eine gängige Mörsergranate oder eine Kampfdrohne schaffen das aber nicht." Immerhin ist das Containment darauf ausgelegt, auch Flugzeugabstürze auszuhalten. Ein derartiges Szenario, bei dem die Hülle zerstört und der radioaktive Brennstoff pulverisiert würde, hält Steinhauser für "sehr unwahrscheinlich" – allein schon, weil keine der Kriegsparteien ein Interesse an einer ernsthaften Beschädigung haben dürfte.

Jod-131 bereits zerfallen

Erleichternd sei, dass die Spaltprodukte mit kurzer Halbwertszeit längst zerfallen sind, sagt der Experte. Jod-131 etwa, das im Fall eines Austritts Schilddrüsenkrebs auslösen kann, hat eine Halbwertszeit von acht Tagen und stellt somit keine Gefahr mehr dar. Sollte das katastrophale Szenario eines Lecks mit einer Freisetzung von radioaktivem Material eintreten, wäre eine lokale Kontamination die Folge, sagt Steinhauser. Überregionale oder gar globale Auswirkungen wären nicht zu erwarten.

"Es wäre in etwa vergleichbar mit Three Mile Island in den USA 1979, wo es zu einer teilweisen Kernschmelze kam. Hier war die gravierendste Folge die Panikreaktion der Bevölkerung." An Fukushima oder den Super-GAU in Tschernobyl würde ein derartiger Atomunfall nicht heranreichen, zumindest sofern es sich nicht um eine geplante komplette Zerstörung der Reaktoren handelt.

Lange Abkühlphase

Und wie lange dauert es, bis die Reaktoren komplett abgekühlt sind? "Das dauert länger, als der Krieg dauern wird", sagt Steinhauser. Kurz nach Abschalten eines Reaktors, wo noch viele frisch erzeugte Spaltprodukte vorhanden sind, sind die Restaktivität und damit die sogenannte Nachzerfallswärme noch beträchtlich. Aufgrund der kurzen Halbwertszeiten der meisten Spaltprodukte sinkt sie aber rasch ab und pendelt sich auf einem niedrigen Niveau ein. Diese Restwärme muss dauerhaft abgeführt werden, bis sie schleichend immer weiter zurückgeht.

Die jüngsten Angriffe auf das AKW Saporischschja wertet Georg Steinhauser als "Spiel mit dem Feuer und mit der Strahlenangst der Bevölkerung". Schließlich sei Tschernobyl nicht nur ein ukrainisches, sondern auch ein russisches Trauma, das tief im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sei. Ein Atomunfall könnte auch die Stimmung in der zunehmend kriegsmüden russischen Bevölkerung zum Kippen bringen. "Es gibt die Hypothese, dass Tschernobyl und der damit verbundene Vertrauensverlust einen wesentlichen Anteil am Zerfall der Sowjetunion hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kreml das vergessen hat." (Karin Krichmayr, 19.4.2024)