Mercedes und Miriam Vargas Ágota Kristóf, Odeon Kornmüller das große heft
Zwei neunjährige Buben (Mercedes und Miriam Vargas), die sich selbst als Überlebensstrategie zur Gefühllosigkeit erziehen.
Victoria Nazarova

Ágota Kristófs Das große Heft strahlt auf Theaterbühnen eine starke Anziehung aus – obwohl es ein Roman ist, oder genau deswegen. Zwei neunjährige Buben werden in Kriegszeiten von ihrer Mutter zur Großmutter aufs Land verbracht. Dort gibt es noch Nahrung. Mehr als Bohnen und Kartoffeln dürfen sich die Geschwister aber nicht erhoffen. Die Großmutter ist eine Frau stählernen Gemüts. Ihrem Überlebenstrieb folgend, erziehen sich die Zwillinge zur Gefühllosigkeit.

Regisseur Ulrich Rasche, die britische Gruppe Forced Entertainment oder die exzellente, auf bildnerischen Mitteln fußende Inszenierung von Sara Ostertag im Wiener Kosmos-Theater (sie schaffte es 2020 auf die Shortlist des Berliner Theatertreffens) – sie alle haben sich in den letzten Jahren von der eindringlichen Rhythmik dieser Prosa an der Hand nehmen lassen und sie in aller Sachlichkeit für die Bühne adaptiert. Die Neuinszenierung von Jacqueline Kornmüller im Odeon besticht ebenfalls mit einer emphatischen, tänzerisch-musikalischen Erzählweise.

Aus dem Kamin von Großmutters Blechhütte ziehen Rauchschwaden heimelig in die Höhe. Ein sich immer wieder neu abwechselnder, leicht gehetzter Rhythmus der drei Livemusiker (András Dés, Martin Eberle, Peter Rom) nistet sich ein; irgendwann zieht er drei ankommende Gestalten in zuckelnden Schritten herein: die Zwillinge (Miriam und Mercedes Vargas) mit ihrer Mutter (Katrin Grumeth).

Verzerrte Gesichter

Abgehackte Bewegungen beim Gehen, Halbstarken-Posen, Gesichter, die sich in eine Verrenkung hineindrehen – in diesen performativen Elementen manifestiert sich der verrohte Zustand der Kinder. Bald werden ihre Blicke noch feindseliger, ihre Lippen verbissener. Kornmüller hätte für diese Übersetzung kaum einen besseren Cast finden können als die Tänzerinnen Mercedes und Miriam Vargas aus dem Serapions-Ensemble. In ihren Gesichtern spielen sich Gewitter ab, ohne die Mimik zu strapazieren. Ihre muskulösen Körper künden von jener Härte, die sich die Buben antrainieren.

Peter Wolfs imposante Gestalt im Kittel verleiht der Großmutter etwas Monströses. Sie uriniert im Stehen und gängelt die Kinder, indem sie ihnen alles Menschliche entzieht: Kleidung, Bett, Nahrung, Hygiene. Um ihrer Gehässigkeit ("ihr Hundesöhne!"), aber auch der Bestialität einer Welt im Krieg gegenüber immun zu werden, härten sich die Zwillinge ab.

Großmutter (Peter Wolf) ist es gewöhnt, im Stehen zu urinieren:
Großmutter (Peter Wolf) ist es gewöhnt, im Stehen zu urinieren: "Das große Heft", inszeniert von Jacqueline Kornmüller.
Victoria Nazarova

Alles ohne Gefühl

Sie betrachten folglich alles ohne Gefühl. So wie sie ihre Berichte in dem titelgebenden Heft ohne subjektive Wertungen notieren, so begegnen sie der Umwelt. Die Verwahrlosung des Nachbarmädchens Hasenscharte (Manaho Shimokawa) und deren Mutter (Yoshie Maruoka) beobachten sie interessiert, sie zünden aber auch deren Haus an, wenn es verlangt wird.

Die Unerbittlichkeit dieser Menschen-Zurichtung "schreitet" mit den Schlagwerken von András Dés einher. Ihr Rhythmus treibt einen Abend an, dem es gelingt, Entmenschlichung zu zeigen, ohne dafür drastische Bilder zu strapazieren. Der Rückbau alles Humanen, beginnend beim eigenen Leib, liegt hier in den vielen, bildlich kaum fassbaren Details eines Alltags im Krieg verborgen. Dieser errichtet sich schneller, als man denkt. (Margarete Affenzeller, 19.4.2024)