Leere Wahllokal im Norden Kosovos.
AP/Bojan Slavkovic

Der Boykott wirkt. Bis Sonntagvormittag gaben nur 85 Menschen im Norden Kosovos ihre Stimme bei jenem Referendum ab, durch das albanische Bürgermeister in den mehrheitlich von Serbinnen und Serben bewohnten Gemeinden im Norden Kosovos abgesetzt werden könnten, um danach serbische Kandidaten zu Bürgermeistern wählen lassen zu können. Die Albaner waren vor einem Jahr nur deshalb Bürgermeister geworden, weil die serbische Regierung die Serben und Serbinnen im Kosovo aufgefordert hatte, die Wahlen zu boykottieren.

Doch nun wird wohl alles beim Alten und die Albaner im Amt bleiben. Die vorherrschende Partei im Norden Kosovos, die Srpska Lista, die von Belgrad gesteuert wird, rief die Serbinnen und Serben auf, nicht teilzunehmen. Um eine Neuwahl der vier Bürgermeister zu ermöglichen, müssten mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten teilnehmen.

Ein Grund für den Boykott ist wohl der Umstand, dass die Wählerlisten nicht der Realität entsprechen. Insbesondere in der Stadt Mitrovica leben weniger Menschen als gemeldet sind. Die Srpska Lista wollte wohl verhindern, dass offenbar wird, wie viele Leute bereits weggezogen sind. Man hat sich wohl auch ausgerechnet, dass die 50 Prozent gar nicht erreicht werden können.

Verschiedene Motive

Miodrag Marinković von der NGO Casa meint, dass es zumindest in den Gemeinden Leposavić und Zvečan möglich gewesen wäre, neue Bürgermeister zu wählen, weil die Wählerlisten dort akkurater seien. Er glaubt zudem, dass die Fortschrittspartei in Serbien zurzeit mit den Wahlen in Belgrad Anfang Juni beschäftigt sei und sich deshalb nicht für das Referendum im Kosovo engagiert habe.

De serbische Präsident Aleksandar Vučić will zudem Zeit schinden und eine Normalisierung verhindern. Er verfolgt seit Jahren das Ziel, den Norden von Kosovo abzutrennen und an Serbien anzugliedern. Deshalb haben er und die Srpska Lista auch bisher alles getan, um eine Integration der Serbinnen und Serben in die kosovarischen Institutionen zu verhindern. Wer einen Job in den kosovarischen Institutionen annahm, musste damit rechnen, dass sein Auto abgefackelt, seine Familie bedroht oder seine Wohnung angezündet wurde.

Subventionen für junge Paare

Die Bedrohung durch die mächtigen von Belgrad unterstützten Gangster ist heute geringer. Nach dem Terroranschlag in Banjska am 24. September des Vorjahres "ist die Srpska Lista nämlich kollabiert", erklärt Marinković dem STANDARD. Die Kriminellen hauten nach Serbien ab und haben nun keinen Zugriff mehr auf die Lokalbevölkerung. Das ist auch in der Gemeinde Leposavić zu merken, wo nicht nur die Straßenhunde entspannt in der Sonne liegen.

Im Gemeindeamt werden nun Subventionen des Staates Kosovo für Kinder und junge Paare angeboten. Es herrscht reger Parteienverkehr. Dort, wo vor einem Jahr noch Stacheldraht ausgerollt war und Nato-Truppen für Sicherheit sorgen mussten, ist selige Ruhe eingetreten. Vor einem Jahr verschanzte sich der neue albanische Bürgermeister in einem Zimmer im oberen Stockwerk. Heute wehen zwei kosovarische Flaggen aus dem Gebäude. Die Dorfjugend sitzt nach der Schule entspannt im Café gegenüber vom Gemeindeamt.

Kosovos Premierminister Albin Kurti.
Kosovos Premierminister Albin Kurti.
IMAGO/V Xhymshiti

Seit Albin Kurti und seine Koalitionspartner vor drei Jahren die Regierungsgeschäfte im Kosovo übernahmen, hat der kosovarische Staat Schritt für Schritt zum ersten Mal nach dem Krieg 1999 die Kontrolle im Norden Kosovos übernommen. Etwa die Hälfte der Nummerntafeln der Autos hier sind noch immer aus Serbien, aber es gibt mittlerweile so viele kosovarische Kennzeichen wie noch nie.

Neue Kritik an Belgrad

Ein Mann, der an einer Laterne an der Hauptstraße lehnt und mit ein paar Bekannten redet, meint, dass das Gemeindeamt mit dem albanischen Bürgermeister "ganz normal" funktioniere. Er verstehe jedoch nicht, weshalb die Srpska Lista das Referendum abgesagt habe, wo dies doch ermöglicht hätte, dass es wieder einen serbischen Bürgermeister gibt. "Ich mag Vučić nicht", meint er. Die Kritik an dem mächtigen Herrscher in Belgrad ist neu. Die Gangster, vor denen sich die Menschen bisher fürchten mussten, kontrollieren hier nicht mehr den öffentlichen Raum.

Der Norden Kosovos ist seit Jahrzehnten ein Hotspot, wo immer wieder Konflikte inszeniert werden, aber auch ein Ort, an dem sich das Schicksal des kleinen und jüngsten Staats Europas entscheidet. Denn Serbien hat hier den Fuß drin. Bereits seit den 1980ern wurden Serben und Serbinnen im Kosovo von den Herrschenden missbraucht, um Politik für sie zu machen.

Premier Kurti ist daran gelegen, den Einfluss der Srpska Lista und von Serbien in seinem Land einzuschränken. Viele denken aber, dass er auch die Macht der Minderheitenvertreter verringern will. Die Minderheitenvertreter können nämlich eine Zweidrittelmehrheit im Parlament verhindern, die Kurti zum Beispiel bräuchte, um eine Überprüfung von korrupten Richtern und Staatsanwälten zu ermöglichen.

Kein Vertrauen

Viele Serben und Serbinnen denken, dass Kurti will, dass "die Serben Kosovo verlassen", meint Marinković. "Die kosovarische Regierung drückt uns eine Entscheidung nach der anderen auf, ohne uns vorher zu konsultieren und sich ausreichend Zeit für gute Lösungen zu nehmen", kritisiert er.

Sava Janjić, Vorstand des weltberühmten Klosters Dečani, das kürzlich nach jahrelangem Rechtsstreit vom Staat den ihm zustehenden Grundbesitz zurückbekommen hat, meint dem STANDARD gegenüber: "Wir machen uns ernsthafte Sorgen um unsere Zukunft in einer Gesellschaft, in der Gerichtsentscheidungen, Gesetze, Minderheiten- und Religionsrechte nur aufgrund von internationalem Druck umgesetzt werden können. Die Situation für die serbische Gemeinschaft im Kosovo und unsere Kirche war in den letzten 25 Jahren seit Kriegsende nicht mehr so schwierig wie jetzt."

Tatsächlich haben es Kurti und seine Regierung nicht geschafft, Vertrauen zur lokalen serbischen Bevölkerung aufzubauen. Einige Verhaftungen von Serben, denen "Verfassungsbruch" vorgeworfen wird, sorgen für Unruhe. Es gibt insgesamt das Gefühl, Serben würden im Kosovo schlechter behandelt als Albaner. Ein Albaner, der im Vorjahr fahrlässig mit seiner Schusswaffe rumballerte und ein serbisches Kind schwer verletzte, wurde nur wegen "Störung der öffentlichen Ordnung" zur Verantwortung gezogen. Ein paar Fälle von brutalem Verhalten der Sonderpolizei Rosu gegenüber Serben vergrößerten noch das Misstrauen.

Politische Fehler

Die serbische Propaganda greift diese Fälle genüsslich auf und bläst sie derart auf, dass sie nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Der für Kosovo zuständige Belgrader Politiker Petar Petković sprach kürzlich absurderweise sogar von einem "Genozid" Kurtis gegen Serben. Tatsächlich haben viele serbische Familien im letzten Jahrzehnt Kosovo verlassen, weil die Bildungsmöglichkeiten schlecht sind. Das ist nicht die Schuld von Albin Kurti. Doch auch er hat Fehler gemacht.

Nachdem im Mai des Vorjahres militante serbische Demonstranten Nato-geführte Kfor-Truppen angegriffen hatten, veröffentlichte Kurti deren Initialen im Parlament. Manche meinen, darunter seien auch Leute gewesen, die gar nicht gewalttätig gewesen seien. Diese Leute hätten nun Angst im Kosovo zu bleiben, weil sie eine Verhaftung fürchteten.

Militante serbische Demonstranten griffen im Vorjahr die Nato-geführten Kfor-Truppen an.
EPA/GEORGI LICOVSKI

Kurti ist vor allem unter westlichen Politikern und Diplomaten unbeliebt. Das hat damit zu tun, dass er vieles verändert und den westlichen Beamten damit Arbeit und Stress macht. Es hat auch damit zu tun, dass er nicht einfach wie die früheren kosovarischen Politiker die Anweisungen der US- und EU-Botschaften erfüllt. Sie können ihn nicht kontrollieren, weil er nicht korrupt ist. Kurti braucht aber Verbündete im Westen, um langfristig erfolgreich sein zu können.

Unverzichtbare Nato

Er braucht vor allem die Nato, die für Kosovo die einzige Sicherheitsgarantie angesichts der russisch-serbischen Kooperation ist. Ein Terroranschlag wie jener in Bansjka ist wieder möglich. Gleichzeitig zeigt das serbische Regime, dass ihm Menschen und Menschenrechte völlig egal sind. Vergangene Woche hielten die serbischen Behörden etwa 300 Kosovaren an der serbisch-kroatischen und serbisch-ungarischen Grenze fest. Sie ließen sie einfach nicht weiterreisen, weil die Parlamentarische Versammlung des Europarats am Tag davor dafür gestimmt hatte, Kosovo in den Europarat aufzunehmen.

Die völlig unschuldigen Bürgerinnen und Bürger – darunter Kinder – mussten viele Stunden warten. Einige Leute – darunter der Vize-Polizeidirektor Kosovos, der Serbe Dejan Janković – wurden sogar 48 Stunden lang verhaftet. "Die Inhaftierung von kosovarischen Strafverfolgungsbeamten, darunter Kosovo-Serben, durch serbische Behörden ist inakzeptabel und sicherlich nicht das, was man von einem EU-Beitrittskandidatenland erwarten kann", schrieb der deutsche Botschafter im Kosovo, Jörn Rohde, auf der Plattform X. Er war einer der wenigen, die dies so deutlich machten. (Adelheid Wölfl aus Mitrovica, 21.4.2024)