So kann heute keiner mehr schreiben: "Harmlose Mordskerle waren es, gemütliche Kanaillen, Folterknechte aus Hetz. Losgelassene Simandln, der Hausfrauenzucht entsprungene Sumper, bleiche Kujone, die in Reglement und Fibel Ersatz für die Potenz suchen, haben im Pallawatsch der Quantitäten sich einen Weltmullatschak verstattet und die ungeheure Gelegenheit des Kanonenrausches zur Rache an einer höher gearteten Mannheit benützt."

So kann heute wirklich keiner mehr schreiben. Nicht nur, weil die altösterreichische Nomenklatur ("Simandl": unterdrückter Ehemann, "Sumper": dumpfer Spießer, "Kujon": niederträchtiger Mensch, "Mullatschak": orgiastisches Fest) heute nicht mehr alle verstehen. Auch weil keiner (kaum einer) mehr so brillant schreiben kann wie Karl Kraus, aus dessen Erster-Weltkriegs-Abrechnung (Weltgericht) das Zitat stammt.

Das "wahre" Österreich

Dennoch sollten alle, denen an der Sprache liegt, die von der Sprache leben, Kraus lesen. Vor 150 Jahren geboren, war er wichtiger Teil der intellektuellen Hochblüte im Wien von ca. 1900 bis zu seinem Tod 1936. Kraus ist nicht "vergessen", das war er nie. Aber es scheint, dass er der jetzigen jüngeren Generation der Interessierten weniger präsent ist. Kollege Ronald Pohl leuchtet in einer feinen Serie den ganzen Karl Kraus aus. Der politische Kraus sei aber extra empfohlen – allen, die nach einer wahren "Leitkultur" des "wahren" Österreich suchen. Nach einem Vorbild an geistiger Schärfe, moralischer Klarheit und gnadenloser Diagnose des österreichischen Sumpertums.

Kraus Literatur Fackel
Bekannt für seine Sprachkunst: Karl Kraus.
Foto: IMAGO/Album

Die Österreichische Akademie der Wissenschaften gibt jetzt eine kommentierte Online-Ausgabe von Die Dritte Walpurgisnacht (1933) heraus. Diese prophetische Aufarbeitung von Adolf Hitlers Machtergreifung ist in ihrer höchsten Verdichtung nicht ganz leicht zu lesen. Aber sie gehört letztendlich zur Lektüre jedes politisch Interessierten. Wer die Wurzeln von so vielem erkennen will, was in Österreich auch heute immer noch mächtig und wirksam ist, der liest am besten Die letzten Tage der Menschheit, dieses gigantische Drama des Ersten Weltkriegs. Über die Jahrzehnte hinweg gab es großartige Aufführungen, zuletzt von Paulus Manker. Aber in Wahrheit muss man diese ungeheure Fülle, diese atemberaubende Dialogkunst, dieses Gespür für Tonfälle er-lesen. Und man hört manche noch heute so reden: "Grüß dich Nowotny, grüß dich Pokorny, grüß dich Powolny, also du bist ja politisch gebildet, also was sagst?"

Kampf gegen Békessy

Kraus hat einen großen Kampf gewonnen – den gegen den Erpresserjournalisten und Krawallzeitungsgründer Imre Békessy (Die Stunde), eine Figur, die einem in ihrer Mischung aus Unverfrorenheit, politischer Käuflichkeit und schmierigem Charme auch heute nicht unbekannt vorkommt. Mit mehreren großen Beiträgen in der Fackel und dem Ruf "Hinaus aus Wien mit dem Schuft" hatte Kraus letztlich Erfolg.

Er hat seiner Zeit und deren Erscheinungen nichts durchgehen lassen. Seine Rigorosität und vor allem seine Sprachkunst erscheint Heutigen unerreichbar. Aber wer Karl Kraus liest, hat nichts falsch gemacht. (Hans Rauscher, 24.4.2024)