Die russischen Angriffe stellen seit mehr als zwei Jahren die größte Bedrohung und Herausforderung für Journalisten und Journalistinnen in der Ukraine dar. Wer über den Krieg berichtet, vor allem von der Front, riskiert dafür oft das eigene Leben. Doch zuletzt kamen Angriffe auch aus dem Inneren des Landes: in Form von Einschüchterungsversuchen. Im Jänner etwa klopften Unbekannte an die Tür der Wohnung des ukrainischen Journalisten Jurij Nikolow, Mitbegründer und Herausgeber des investigativen Medienprojekts "Naschi Hroschi". Sie hinterließen Schilder, auf denen sie Nikolow als "Wehrdienstverweigerer" und "Provokateur" bezeichneten.

Die Arbeit an der Front ist für Medienschaffende in der Ukraine oft lebensgefährlich. Aber auch im Hinterland sind sie mitunter Druck ausgesetzt.
Daniela Prugger

Einige Tage später berichtete Denys Bihus, der Leiter der Investigativplattform "bihus.info", dass seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen monatelang übers Telefon abgehört und vermutlich von Mitarbeitern des Inlandsgeheimdienstes (SBU) überwacht worden seien. Und im April erklärte die ukrainische Enthüllungsplattform "slidstvo.info", dass die Armee versucht habe, ihren Mitarbeiter Jewhenij Shulhat zum Wehrdienst einzuberufen. Offenbar, so die Plattform, habe es sich dabei um eine Vergeltungsmaßnahme gehandelt. Denn Shulhat hatte zuvor über den Immobilienbesitz des Leiters der Abteilung für Cybersicherheit des SBU, Ilja Witiuk, und dessen Verwandtschaft berichtet.

Besorgniserregender Trend

Die Vorfälle sorgten auch für einen internationalen Aufschrei. Deshalb habe er gehofft, dass sich die Situation verbessert, sagt Oleksiy Sorokin, Mitbegründer und stellvertretender Chefredakteur des mittlerweile bedeutendsten englischsprachigen Mediums der Ukraine, Kyiv Independent. Doch leider gibt es diesen "besorgniserregenden Trend" nach wie vor. Und auch der Kyiv Independent habe nicht die besten Erfahrungen mit dem SBU gemacht, bestätigt Sorokin dem STANDARD – betont aber, dass das Medium in der Berichterstattung frei sei.

"Es liegt in der Natur jedes Sicherheitsdienstes, alles unter seine Kontrolle bringen zu wollen. In den meisten Ländern gibt es deshalb ein angemessenes System von Checks and Balances. Nur: In der Ukraine war der SBU schon vor der Invasion zu mächtig." Dass Journalisten und Journalistinnen in der Ukraine dennoch investigative Recherchen veröffentlichen und die Bevölkerung nach wie vor auf ihrer Seite stehe, wertet er als positives Zeichen. "Es ist noch immer so, dass mir die Lage an der Front im Osten mehr Sorge bereitet als der Status der Pressefreiheit", so Sorokin.

Doch die eigentliche Frage sollte lauten, warum sich die Behörden und die Regierung durch Kritik so bedroht fühlen, erklärt die ukrainische Medienexpertin Natalia Ligatschewa. "Diejenigen, die Kritik äußern, sind bereits Feinde", sagt sie zum STANDARD und erklärt, dass diese Logik womöglich jener von Präsident Wolodymyr Selenskyj folge, "der in seinem Leben keine Kritik gewohnt war, weil er immer ein erfolgreicher Showman war und nur Beifall kannte".

"Regierung schießt sich selbst ins Bein"

Das ukrainische Institut für Masseninformation (IMI) berichtet neben Fällen, in denen Medienschaffende bedroht werden, auch immer wieder davon, dass Journalisten und Journalistinnen der Zugang zu Informationen verweigert wird. Dazu zähle zum Beispiel der Versuch von "slidstvo.info", weitere Informationen über Auslandsdienstreisen von Parlamentsabgeordneten zu erhalten. Erst im vergangenen Jahr war Juri Aristow, Parlamentsabgeordneter aus Selenskyjs Partei, zurückgetreten, nachdem bekannt geworden war, dass er in einem Fünf-Sterne-Hotel auf den Malediven Urlaub gemacht hatte, während der Großteil der Männer im wehrfähigen Alter aufgrund des Kriegs nicht ausreisen dürfen.

Der Druck auf Journalisten und das Zurückhalten von Informationen seien dabei eine große Gefahr – nicht nur für die ukrainische Gesellschaft, sondern auch für den Verlauf des Krieges, sagt Natalia Ligatschewa, die seit Jahren die ukrainische Medien-NGO "Detector Media" leitet. Ein großes Problem stelle dar, dass die Regierung noch immer am sogenannten "Telemarathon" festhält: Seit Kriegsbeginn zeigen der öffentlich-rechtliche und mehrere Privatsender von Oligarchen dieselben Informationsnachrichten und Stellungnahmen offizieller Sprecher und Vertreter der Regierung und Armee. Ligatschewa bezeichnet den Telemarathon als „bequeme Art, die Oligarchen bei der Stange zu halten". Der Telemarathon gewährleiste Loyalität und Legitimität für die Regierung und sei außerdem "eine Gelegenheit, der Opposition den Zugang zum Rundfunk zu verwehren".

Doch Ligatschewa befürchtet, dass sich die Regierung mit den oben genannten Aktionen selbst ins Bein schieße. Sollte die Regierung den Telemarathon aufgeben, müsse sie mit Kritik rechnen. Halte sie weiter an ihm fest, werde sie noch mehr Vertrauen bei der Bevölkerung einbüßen. (Daniela Prugger aus Kiew, 3.5.2024)