In Tim Etchells’ Stück
In Tim Etchells’ Stück "Die Rechnung" – hier ein Bild aus Avignon – bleiben Gast und Kellner einander nichts schuldig.
Christophe Raynaud de Lage

Welttheater für alle: Das ist ein vom avancierten Theater so lange umschifftes Vorhaben, dass die breite Bevölkerung längst in die flachen Gewässer der kommerziellen Unterhaltungsbranchen abgedampft ist. Schade, denn der öffentliche Kunstbetrieb gehört ja uns allen.

Dem treten die Wiener Festwochen entgegen. Zusammen mit dem französischen Festival d’Avignon wird jetzt die neue Reihe "Volksstück / Pièce Commune" umgesetzt.

Und wer wäre für den Auftakt dieser Serie besser geeignet als der Brite Tim Etchells, Gründer der international vielgelobten Gruppe Forced Entertainment? Der heute 62-Jährige gehört wohl zu Europas weitestblickenden und uneitelsten Gegenwartsregisseuren.

Ganz so einfach ist es nicht

Beim Festival d’Avignon wurde dieses erste Volksstück – das auf Französisch L’Addition heißt – letztes Jahr mit den Schauspielern Bertrand Lesca und Nasi Voutsas entwickelt und getestet. In Wien ist es nun als Die Rechnung mit Frank Genser und Christoph Schüchner in allen 23 Bezirken zu sehen. Die deutschsprachige Regie unterstützt Johanna Mitulla.

Die Rechnung basiert auf einer einfachen Struktur mit einem Kellner und seinem Gast. In diesem "Grundelement der Slapstickkomödie", erklärt Tim Etchells, "wird schnell klar, dass es um ein Machtverhältnis geht". Machtspiele seien fundamentale Elemente jeder menschlichen Beziehung. Hier gilt: "Wer bedient wen? Wer hat die Kontrolle?"

Abgründigkeit und Humor

"Das entwickelt sich zu einem erbitterten, aber spielerischen Kampf in einer Atmosphäre der Instabilität", führt Etchells aus. "Ich möchte herausfinden, wie dieses Verhältnis untergraben und umgekehrt werden kann, wie wir damit spielen können." Im Mittelpunkt steht "der Wunsch, das Publikum auf eine Reise mitzunehmen, die es sich nie hätte vorstellen können, in Form von Bildern, Ideen, Reaktionen oder Fragen, und ihm gleichzeitig zu zeigen, dass es wirklich Spaß macht, diese Reise so komplex wie möglich zu gestalten." Etchells mit seinem Sinn für Abgründigkeit und Humor hat die künstlerische Fähigkeit, zeitgenössisches Denken für ein breites Publikum aufzubereiten.

In ihrer Reihe "Histoire(s) du Théâtre", die Neo-Intendant Milo Rau von seinem früheren Job als Leiter des NT Gent mitgebracht hat, stellen die Festwochen noch eine weitere Etchells-Arbeit vor: How Goes the World ist eine so absurde wie komische Abfolge von Auftritten und Abgängen in Reflexion jener vier Jahrzehnte Theaterarbeit, in der Tim Etchells und Forced Entertainment etliche Maßstäbe gesetzt haben. (Helmut Ploebst)

Eine Frau am Nullpunkt nach Missbrauch und Zwangsheirat.
Eine Frau am Nullpunkt nach Missbrauch und Zwangsheirat.
Kurt Van der Elst

Laila Solimans Oper "Woman at Point Zero"

Über Blumenwiesen laufen und sich vom Gras an den Fußsohlen kitzeln lassen. Sagen und tun können, was man will. Fühlt sich so die Freiheit an?

Zu diesem Gefühl findet Fatma ihren eigenen Zugang – in der Todeszelle. Missbrauch, Zwangsheirat, Prostitution und Gewalt prägten ihr Leben. Jetzt erwartet Fatma die Hinrichtung, weil sie ihren Zuhälter ermordet hat.

Davon berichtet sie auch der Dokumentarfilmerin Sama, die Fatmas Lebensgeschichte aufarbeiten möchte. Aber kann man sich hinter Gitterstäben tatsächlich freier fühlen als außerhalb?

Die feministische Oper Woman at Point Zero ist vom gleichnamigen Roman der ägyptischen Autorin Nawal El Saadawi inspiriert.

Regisseurin Laila Soliman bündelt darin multimediale Elemente mit westlichen und östlichen Musiktraditionen sowie englisch-arabischem Gesang in der Komposition von Bushra El-Turk. Die musikalische Leitung hat Kanako Abe. (pk)

"Parallax": Spannungen dreier Generationen auf engstem Raum.
Kornel Mundruczo

Uraufführung von Kornél Mundruczós "Parallax"

Die Perspektive zählt, wie schon der Hausverstand sagt. Und das Phänomen, dass sich je nach Position der Beobachterin (scheinbar) auch die Position des beobachteten Objekts verändert, lässt sich mit einem physikalischen Begriff beschreiben: als Parallaxe.

Von hier ist es kein allzu weiter Weg zur Versuchsanordnung im neuesten Stück Parallax des ungarischen Regisseurs Kornél Mundru­czó und seinem Proton Theatre.

Da leben drei Generationen in Budapest auf engstem Raum zusammen. Alle Beteiligten haben auf unterschiedlichste Art mit im Tiefsten empfundenen, mit marginalisierten oder aber aufgezwungenen Identitäten zu kämpfen.

Was für die Großmutter, eine Holocaust-Überlebende, die osteuro­päisch-jüdische Identität ist, ist für den erwachsenen Sohn die homosexuelle, die in Ungarn zunehmend verfolgt und marginalisiert wird.

Auch hier kommt es immer auf die Perspektive an. (hein, 3.5.2024)