Die Angriffe auf Politikerinnen und Politiker der SPD und der Grünen in den vergangenen Tagen rufen Erinnerungen an dunkle Zeiten hervor. Einen "Hauch von Weimar" meinen manche Kommentatoren bereits zu spüren – und erinnern an das Abgleiten der deutschen Demokratie in die NS-Diktatur zu Beginn der 1930er-Jahre, die von massiven politischen Grabenkämpfen geprägt waren. Auch wenn die Bundesrepublik 2024 von den Verhältnissen der Weimarer Republik aktuell noch weit entfernt ist: Laut Innenministerin Nancy Faeser ist die Zahl der Straftaten gegen Mandatsträger von 2022 auf 2023 um ganze 53 Prozent gestiegen. Vor allem im Visier der Gewalttäter: die Grünen.

Nach dem Angriff auf SPD-Politiker Ecke wurde in Berlin für Demokratie demonstriert.
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Die jüngsten Anlässe zur Sorge: Am Freitag war der sächsische SPD-Spitzenkandidat für die EU-Wahl, Matthias Ecke, in Dresden von vier jungen Männern – mutmaßlich aus der rechten Szene – schwer verletzt worden, als er Wahlplakate anbringen wollte. Am Dienstag trug die frühere Regierende Bürgermeisterin von Berlin und heutige Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) bei einem tätlichen Angriff leichte Verletzungen davon. In Dresden schließlich wurde eine 47 Jahre alte Grün-Politikerin beim Aufhängen von Wahlplakaten attackiert.

Drei Vorfälle, die für ein weit größeres Phänomen stehen: 2790 Angriffe wurden den deutschen Behörden 2023 laut einer Antwort der Bundesregierung auf eine AfD-Anfrage im Bundestag gemeldet. Mehr als 1200 davon betrafen Mitglieder der Grünen, fast 500 die AfD, 420 die SPD.

Ecke war attackiert worden, als er Wahlplakate in Dresden affichierte.
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Freilich: Nicht alle Angriffe bedeuten, dass den Opfern so wie im Fall Ecke physischer Schaden zugefügt wurde, auch Beleidigungen und Sachbeschädigungen, etwa gegen Parteibüros, flossen in die Zahlen ein. Zuletzt wurde, wie die Fälle in Berlin und Dresden nahelegen, aber wieder mehr zugeschlagen als beschimpft.

Lange Geschichte der Gewalt

Physische Angriffe auf Politikerinnen und Repräsentanten des Staates sind freilich kein neues Phänomen in der Geschichte der Bundesrepublik. Im sogenannten Deutschen Herbst überzog die linksextreme Terrorgruppe RAF 1977 das Land mit Anschlägen, Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer wurde ermordet, das Lufthansa-Flugzeug Landshut entführt.

Wolfgang Schäuble, am Stefanitag 2023 verstorben, saß seit dem Attentat 1990 im Rollstuhl.
Sepp Spiegl via www.imago-images

Die Attentate auf den damaligen CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble 1990 und kurz zuvor auf Oskar Lafontaine, damals SPD-Ministerpräsident des Saarlandes, wurden nicht politischen Motiven zugeschrieben, sondern gesundheitlichen Problemen. Glimpflicher verlief die Sache für CDU-Kanzler Helmut Kohl, er wurde 1991 bei einem Besuch in Ostdeutschland mit Eiern und Farbbeuteln beworfen, sein Nachfolger Gerhard Schröder (SPD) 2004 geohrfeigt.

Liberale Flüchtlingspolitik

Im Oktober 2015 stach ein Attentäter mit rechtsextremem Hintergrund während einer Wahlkampfveranstaltung auf die Kölner Kommunalpolitikerin Henriette Reker ein, sie überlebte nur knapp und wurde wenige Tage nach der Tat zur Oberbürgermeisterin gewählt. 2019 erschoss ein Rechtsextremist den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke auf dessen Privatgrundstück, der streitbare CDU-Politiker hatte sich zuvor für Geflüchtete engagiert. Der Bürgermeister von Tröglitz in Sachsen trat 2015 zurück, nachdem er und seine Familie massiv bedroht worden waren. Auch er hatte sich für einen liberalen Umgang mit Geflüchteten ausgesprochen.

Kölns Bürgermeisterin Henriette Reker demonstrierte schon im Jänner für den Schutz der Demokratie – 2015 wurde sie selbst Opfer eines Attentäters.
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Zuletzt waren es vor allem die Grünen, deren Mitglieder ins Visier von Gewalttäterinnen und -tätern rückten. Gleich zu Jahresbeginn bedrängten randalierende Demonstranten, die von Rechtsextremisten aufgewiegelt wurden, den grünen Wirtschaftsminister Robert Habeck, als er in Schleswig-Holstein eine Fähre verlassen wollte. Vier Monate später, Anfang Mai, blockierten Demonstranten in Brandenburg das Auto der ebenfalls grünen Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt – in "aggressiver Stimmung", wie es heißt. Auch bei Protesten von Landwirten, die gegen die Agrarpolitik der Ampelkoalition demonstrierten, kam es zu teils aggressiven Gesten gegen Vertreterinnen und Vertreter der Grünen. Im baden-württembergischen Biberach mussten die dortigen Grünen im Februar zudem den politischen Aschermittwoch absagen. Am 2. Mai traf es den Dritten Bürgermeister der Ruhr-Großstadt Essen, Rolf Fliß: Auf dem Weg von einer Wahlkampfveranstaltung wurde er von einem Passanten niedergeschlagen.

Der Fall Ecke – der SPD-Europapolitiker war in Dresden bei einem Angriff schwer verletzt worden – könnte nun eine Zäsur darstellen, wie es Innenministerin Faeser in den ARD-Tagesthemen am Dienstag formulierte. Die Verschärfung des Strafrechts sei nur eine Maßnahme, um der "Eskalation antidemokratischer Gewalt" beizukommen.

Weil auch die – teils – rechtsextreme AfD 2023 ganze 500 Mal Ziel politischer Gewalt wurde, warnte Faeser davor, der Sorge vor einem Rechtsruck bei den anstehenden Wahlen mittels Gewalttaten Ausdruck zu verleihen: "Auch Angriffe gegen AfD-Politiker sind nicht hinnehmbar." (Florian Niederndorfer, 8.5.2024)