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Neapel ist eine Stadt, die mit Erfolg Touristen vergrault.

>>> Bilder von Neapel in einer Ansichtssache.

Grafik: DER STANDARD
When you walk in a dream but you know you're not dreaming, Signore, Scusa me, but you see, back in old Napoli that's amore. Dean Martin

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Ausgerechnet Neapel. Nennt man Barcelona, Spitzbergen oder Balikpapan als Reiseziel, erntet man vielleicht Neid, Neugierde oder ein Fragezeichen. Erwähnt man Neapel, erntet man Spott. Müllberge, Camorra, Hatz auf Ausländer: Was soll man mehr sagen? Doch der Tourist, der keiner sein will, fährt erst recht in die Stadt, die mit Erfolg Touristen vergrault. Nachts kommt er an, auf der Stadtautobahn, die die vor sich hingammelnde Hafen- und Industrieperipherie durchschneidet: fühlt sich an wie das alte New York, wie On the Waterfront, wie Last Exit to Brooklyn.

Die Assoziation mit der Metropole am Atlantik, die auf dem gleichen Breitengrad liegt wie Neapel, drängt sich wieder auf, wenn er hautnah spürt, dass Neapel offenbar nach anderen Gesetzen funktioniert als der Rest von Italien, das wiederum um einiges anders tickt als das restliche Europa. "Um in die Via San Biagio zu kommen, könnt ihr gegen die Einbahn fahren, kein Problem", sagt die Vermieterin. Die engen Gassen, das Gewusel an Menschen im Centro storico und im spanischen Viertel, das erinnert an die alten Gegenden von Manhattan, in denen die Einwanderer aus Kampanien ja auch stark vertreten waren. Die sagten damals vielleicht genauso wie heute der Portier: "Müllberge? Die haben wir hier immer schon gehabt. Natürlich ist es schlimmer geworden. Aber was ist nicht schlimmer geworden?"

Dass nichts besser wird, das erwarten Süditaliener sowieso, insbesondere von der Regierung. Neapolitaner aber haben seit der griechischen "Neustadt" im Laufe der Jahrhunderte so viele Regierungen über sich ergehen lassen, dass sie das pragmatische Misstrauen zu einer Überlebenskunst perfektioniert haben. Der frisch Angekommene merkt an vielen Details, wie wenig im Großen und wie viel im Detail funktioniert.

Er sieht den zu Recht berühmten Straßenverkehr, dessen Anarchie jeden Ortsfremden zur Verzweiflung, dafür die Einheimischen, vor allem die auf Mopeds und Motorrädern, schnell ans Ziel bringt.

Er beobachtet die Kellner, die die Kaffees durch eben dieses Straßenchaos an ihr Ziel, den Schreibtisch einer Respektsperson, balancieren.

Er bekommt mit, dass in der Hafenstadt, deren tatsächliches Schiffsverkehrsaufkommen angeblich dreimal so hoch ist wie das offiziell registrierte, praktisch alles inoffiziell zu bekommen ist, wenn man die richtigen Leute kennt.

Er merkt sehr schnell einen wichtigen Unterschied zu anderen italienischen Städten. Während in Florenz oder Turin der Kulturbestand wie auf dem Tablett präsentiert funkelt, wird er in Neapel in den Alltag gezwängt, überbaut, zweckentfremdet, nutzbar gemacht: Wäscheleinen hängen an Kirchen, auf denen Sträucher wachsen; in Renaissancegewölben wird an Autos gewerkelt; das Nil-Denkmal dient als Verkaufsstand, das schmiedeeiserne Tor als Kleiderständer einer Boutique.

Er sieht in der archäologischen Grabungsstätte Santa Restituta schichtweise, wie die Stadt schon immer funktioniert hat: Unter der Kapelle im neugotischen Dom liegen Zeitalter über- und ineinander. Vom Mittelalter geht es hinunter zu einer Basilika aus dem vierten Jahrhundert. Unter ihr stehen freigelegte römische Mauern, darunter Reste einer griechischen Straße, dazwischen Wasserleitungen aus beiden Perioden. In die Gegenwart führen ihn Aufschriften zurück, die manchmal nur Italienisch, manchmal mehrsprachig sind, dann aber durchaus Unterschiedliches sagen. Und die Frau an der Kassa sagt, dass es für Mitglieder der internationalen Museumsvereinigung eigentlich keine Ermäßigung gibt, aber, va bene, sie gibt ihm 50 Prozent Rabatt.

Das und vieles mehr gefällt dem Touristen, der keiner sein will. Er lässt sich von dem Gefühl, dass alles irgendwie möglich ist, anstecken und wird sorglos. Das hätte er lieber nicht tun sollen.

Signora Binetti ist eine hilfsbereite Frau. Sie ordnet den Papierkram und seufzt. "Kein Wunder, dass keine Touristen kommen", sagt sie. "Wissen Sie, ich bin nicht von hier, sondern aus Apulien. Ich schäme mich für diese Stadt." Nun gut, er war selbst schuld, und der Taschendieb im Bus hinauf zum Museo di Capodimonte war auf seine Art ein Kunsthandwerker. Aber das Ganze scheint dem Touristen, der nun offenbar doch einer ist, wie ein zusätzliches Napoli-Ereignis. You know you're not dreaming, Signore. "Kein Wunder", schimpft Signora Binetti, "es gibt immer weniger Touristen, und auf die stürzen sich dann immer mehr Nichtsnutze. Lazzaroni!" Er kommt sich schon fast vor wie eine personifizierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die Kreditkartenabteilung ruft er sicherheitshalber doch an.

Capodimonte war nur eines der Museen, die ihn für den Verlust entschädigen. Was dort der Bestand an klassischer Malerei und eine kleine feine Abteilung für moderne Kunst, ist im Museo archeologico die Sammlung vor allem antiker Werke, inklusive dem Besten, was 79 nach Christus unter der Vesuv-Asche begraben wurde. Von den Palazzi, Castelli und der Cappella Sansevero mit ihren fast durchsichtig feinen Marmorskulpturen ganz zu schweigen.

Um den Zugereisten endgültig mit der Stadt zu versöhnen, entführt der Künstler Giuseppe Zevola ihn in das magische Reich, das er vor Jahren betreut hat: in das Historische Archiv Banco di Napoli. In Sälen und Gewölben, ortstypisch hinter verwitterten Mauern und riesigen Einfahrtstoren versteckt, lagern hier Dokumente aus fünf Jahrhunderten. Zum Beispiel acht Millionen Schecks, an denen man ablesen kann, was alltäglich gehandelt und gekauft wurde. Rückblickend zumindest gelingt es, in das Chaos Ordnung zu bringen. (Michael Freund/DER STANDARD/rondo/12.6.2008)