Etwa 4 Zentimeter hohe Goldblechfigur in Gestalt eines Menschen.
Diese Goldfigur wurde bei einem Awaren-Gräberfeld im ungarischen Rákóczifalva entdeckt und stammt aus dem 7. Jahrhundert.
Institute of Archaeological Sciences, Eötvös Loránd University

Im Gegensatz zu ihren "Vorgängern", den Hunnen mit ihrem mächtigen Herrscher Attila, sind die Awaren weniger populär. Doch diese ebenfalls ursprünglich nomadische Gruppe hinterließ wesentlich mehr archäologische Spuren in Europa. Die Elite der Awaren herrschte im Frühmittelalter über 250 Jahre in der pannonischen Tiefebene und damit über weite Teile Zentral- und Osteuropas, zu denen auch der heutige Osten Österreichs zählt. Nicht umsonst wurde eine Region, die unter anderem das heutige Niederösterreich umfasst, einst "Awarenmark" genannt. Ein Hotspot der Migration zur Zeit der Völkerwanderung.

Eigene schriftliche Aufzeichnungen fehlen, daher kennt man die Awaren vor allem aus Beschreibungen ihrer Feinde. Die Reiterkrieger kamen im 6. Jahrhundert nach Europa und konnten sich im Spannungsverhältnis zwischen Franken und Byzanz behaupten. Es dürfte eine große Gruppe gewesen sein, die aus der zentralasiatischen Steppe nach Europa kam: "Das müssen ein paar Zehntausend gewesen sein", sagt der Historiker Walter Pohl, der an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Universität Wien forscht. Später verlor die Oberschicht, die unabhängig von der Abstammung als Awaren bezeichnet wurde, durch Karl den Großen und seine Kriege ihre Macht.

Mehr als 100.000 Awarengräber wurden in Europa bisher entdeckt. Ein zehn Millionen Euro schweres Forschungsprojekt namens "HistoGenes", das Pohl mitleitet, liefert nun neue Erkenntnisse durch eine Zusammenarbeit von Genetik, Geschichte, Archäologie und Anthropologie. Es zeigte bereits, dass die Kerngruppe der Awaren ursprünglich aus dem Osten Zentralasiens nach Europa kam und es sich um die schnellste bekannte Fernmigration der Menschheitsgeschichte handelte. Das vom Europäischen Forschungsrat ERC finanzierte Projekt brachte nun eine neue Studie zuwege, die im Fachjournal Nature erschien und mehr Licht in die Familienverhältnisse der Awaren bringt.

Kinder mit dem Schwager

Von allen 424 Individuen aus vier Gräberfeldern im heutigen Ungarn wurden DNA-Proben genommen. Das ist eine Seltenheit für derartige Studien, weil meist die Ressourcen für so viele Analysen alter DNA fehlen. Dadurch konnten umfangreiche Stammbäume nachgezeichnet werden.

Sie zeigten: Frauen bekamen Kinder mit Männern, die untereinander eng verwandt waren – also etwa zwei Brüdern. Es ist nicht leicht, aus den Überresten der Verstorbenen herauszufinden, ob dies parallel oder nacheinander geschah. Üblicher wäre, dass die Frau nach dem Tod ihres Mannes mit einem seiner Brüder oder sogar seinem Vater zusammenlebte und sie gemeinsam weitere Kinder zur Welt brachten. Dies wird als Levirat oder Leviratsehe bezeichnet, im Lateinischen bedeutet "levir" Schwager.

Grab mit dem Skelett eines Menschen und eines Pferds.
Pferde waren für die reitenden Awaren wichtige Partner. Sie wurden auch gemeinsam bestattet, wie dieser relativ jung verstorbene Bursche.
Institute of Archaeological Sciences, Eötvös Loránd University

"Da geht's nicht um Liebe", sagt Mittelalterexperte Pohl. Solche Verbindungen wurden unter anderem eingegangen, weil Männer in dieser Kultur normalerweise Brautgeld an die Familie der Frau zahlen mussten – quasi das Gegenteil einer Mitgift. "Bei Steppenvölkern ist das Brautgeld relativ hoch", sagt der Historiker. Oft habe es sich dabei um Nutztiere gehandelt, es gibt aber auch einen chinesischen Bericht über einen Mann, der anstelle eines Brautpreises zwei Jahre in der Familie seiner Braut arbeiten musste, um den Verlust der Arbeitskraft der Frau zu kompensieren.

"Das spart sich ein jüngerer Bruder, wenn die Frau schon in der Familie ist", sagt Pohl über die Vorteile der Leviratsehe. Außerdem würde die Familie der eher kleinen Siedlungsgemeinschaften eine wichtige Arbeitskraft verlieren, wenn die Witwe zur Familie ihrer Vorfahren zurückkehren würde. Chinesische Quellen aus dieser Zeit berichten bei Gesellschaften aus der awarischen Ursprungsregion von diesen Motiven.

Chinesische Schriften

Hier fand die Doktorandin Sandra Wabnitz von der Uni Wien und der ÖAW wichtige Belege in chinesischen Texten, die dazu passen. Das ist eine wichtige Ergänzung der europäischen Quellen, da sei laut Pohl "das ethnografische Interesse nicht so groß" gewesen.

Zwar müsse man die Quellen im Hinblick auf mögliche Vorurteile vorsichtig bewerten. Manches wurde aber in mehreren Berichten aufgezeichnet. So hielten Gesandte aus Konstantinopel am Hof eines eben verstorbenen zentralasiatischen Herrschers im 6. Jahrhundert fest, dass sie angehalten wurden, sich mit einem Messer die Wangen aufzuschlitzen. Dies sei im Zuge einer Trauerfeier offenbar üblich gewesen, "damit sich das Blut mit den Tränen vermischt", sagt Pohl. Einen ähnlichen Bericht gibt es auch aus China. "So etwas erfindet man nicht parallel in China und Konstantinopel."

Die Analysen der Awarenfriedhöfe lieferten Beweise dafür, dass Frauen "zugeheiratet" wurden. Sie waren somit mobiler und verließen ihre Familien, um andernorts bei der Familie ihres Partners zu leben. Männer blieben normalerweise in den Gemeinschaften, aus denen schon ihre Vorfahren kamen, "das kann man an den Stammbäumen sehr schön ablesen", sagt Pohl. Der umfangreichste Stammbaum erstreckt sich über neun Generationen und etwa 250 Jahre.

Knochen mit Loch, aus dem Knochenstaub fällt; ein Forscher oder eine Forscherin mit Schutzhandschuhen hält ein Werkzeug an den Knochen.
Für die DNA-Analysen wurden aus den Knochen Proben entnommen.
Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology

Diese sogenannte weibliche Exogamie wurde auch in anderen Steppenvölkern beobachtet und könnte schon in prähistorischen Zeiten die Regel gewesen sein. Sie verhinderte insbesondere in kleineren Gesellschaften Inzest. "Es war die Rolle der Frauen, die einzelnen Gemeinschaften miteinander zu verbinden", sagt Studienautorin Zuzana Hofmanová vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Sie gehört zum Team um den ebenfalls beteiligten Johannes Krause, der als renommierter Genetikspezialist mit Die Reise unserer Gene und Hybris auch populärwissenschaftliche Bücher über unsere Vorfahren verfasst hat. Dies ist besonders interessant, weil über Awarinnen kaum etwas aus historischen Quellen bekannt ist.

In einigen Fällen hatten Awarenmänner zwei oder selten drei Partnerinnen, wie die Daten zeigen. Das war bereits für die Herrschaftsschicht bekannt, "es scheint aber auch in bescheideneren Bevölkerungsschichten und kleinen Gemeinschaften öfter der Fall gewesen zu sein", sagt Pohl. Allerdings habe sich nicht jeder Mann die Polygamie leisten können.

Vermutlich wurde über die männliche Linie der Besitz weitervererbt, schätzt Pohl. Die Awaren lebten ursprünglich nomadisch, was sie zumindest für die ersten beiden Generationen in Europa beibehielten. Aber die stabilen Gräberfelder ab dem 7. Jahrhundert sprechen für eine gewisse Sesshaftigkeit. Mehr und mehr widmeten sich die Gruppen der Landwirtschaft. Hinsichtlich ihrer Wohnstätten dürften sie aber eher bescheiden geblieben sein, was imposante Bauten angeht. Solche wurden bisher auch archäologisch nicht gefunden.

Friedliche Gesellschaft

Anhand der Bestattungsmerkmale ist ein interessanter Trend erkennbar: Während die Gräber im späten 6. und frühen 7. Jahrhundert mitunter viel reicher mit Beigaben ausgestattet waren, änderte sich dies im 8. Jahrhundert. Dann nahmen die Verstorbenen weniger Edelmetalle mit ins Grab. "Dafür wurde fast allen eine Art Grundausstattung beigelegt", sagt Pohl. Anscheinend lebten mehr Menschen mit mittlerem Standard, typisch waren als Grabbeigaben Bronzegürtel mit Schmuckmotiven.

Verrostetes Schwert mit drei schaftumgreifenden Goldverzierungen
Dieses Awarenschwert mit Goldverzierung stammt aus dem 7. Jahrhundert, als aufwendige Grabbeigaben allmählich rar wurden. Entdeckt wurde es in Kunpeszér, Ungarn.
Katona József Museum

Dies spreche für eine relativ friedliche Gesellschaft, die innerhalb der Gruppe keine großen Statusunterschiede sichtbar mache: "Es war eine Zeit, zu der man nicht demonstrieren musste, dass man die Mittel hatte, den Bestatteten viel Gold und Silber mitzugeben." Allerdings fehlt der Vergleich zum aristokratischen Hof der sogenannten Khagane. Sie waren etwa mit Kaisern gleichzusetzen.

Bemerkenswert ist außerdem eine genetische Veränderung auf einem der Friedhöfe, die zeitlich auf das Ende des 7. Jahrhunderts fällt. Damals wurde die dominante Familie anscheinend von einer anderen abgelöst. Die politischen Verhältnisse der Machthabenden dürften sich damals, gegen Ende der Zeit der Awarenherrschaft, geändert haben. Weitere Studien zu österreichischen Awarengräbern in Niederösterreich – Mödling und Leobersdorf – werden in den kommenden Monaten veröffentlicht und neue Einblicke in die rätselhafte Lebensweise der Awaren liefern. (Julia Sica, 24.4.2024)