"In meinem Sportverein steht ein Sechzigjähriger vor mir und macht sich Sorgen über die Gleichberechtigung der türkischen Frau. Hat er sich jemals Sorgen um die Gleichberechtigung seiner Ehefrau gemacht?", fragt Mark Terkessidis

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Vor zehn Jahren hat sich die deutsche Bundesregierung offiziell dazu bekannt, dass Deutschland ein "Einwanderungsland" sei. Was ist seither passiert? Auf Bundesebene wenig, meint Rassismusforscher Mark Terkessidis. In den Gemeinden sei hingegen "ein richtiger Aufbruch" spürbar: "Egal, wie flüchtig sich Menschen in einer Stadt aufhalten, sie gehören für diesen Zeitraum trotzdem zur Stadt dazu.". Dass es dadurch zu einem Abflauen rassistischer Einstellungen komme, glaubt Terkessidis nicht - im Gegenteil: Je mehr Menschen mit Migrationshintergrund in höhere Positionen kommen, desto stärker werde die Tendenz, diese Ansprüche zurück zu drängen. Die Fragen stellte Maria Sterkl.

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derStandard.at: Im Vorjahr durften rund 4000 Menschen aus der Türkei nicht zu ihren Ehepartnern nach Deutschland einreisen, weil sie einen Deutschtest nicht geschafft hatten. Ist das die Familienpolitik der rotschwarzen Regierung?

Terkessidis: Eigentlich wollte man mit dem Gesetz ja Zwangsheiraten verhindern. Anstatt dessen hat man die Zwangsheiraten als Alibi genommen, um die Bedingungen zu verschärfen. Dieser Test ist aber relativ kompliziert und wurde noch dazu nur für bestimmte Länder gemacht: Er ist für die Türkei und für Serbien vorgeschrieben, aber zum Beispiel nicht für Korea. Das ist natürlich eine zutiefst rassistische Gesetzgebung.

derStandard.at: Wie haben die Türken in Deutschland auf das Gesetz reagiert?

Terkessidis: Die türkischen Verbände sind aus Protest aus dem nationalen Integrationsgipfel ausgeschieden. Es war eine klare Gesetzgebung, um Heiraten aus der Türkei zu verhindern. Man muss aber wissen, dass es nur noch sehr wenige Möglichkeiten gibt, legal in die BRD zu kommen. Dadurch entstehen natürlich andere Wege. Die Heirat ist eine Art Brautpreis, es gibt einen eigenen Heiratsmarkt, wo Ehen arrangiert werden, damit die Leute nach Deutschland kommen können. Da muss man sich gar nichts vormachen - das ist eine rein technische Angelegenheit im Rahmen der Einwanderung. Indem man das austrocknet, verhindert man aber noch lange nicht, dass neue Wege gefunden werden.

derStandard.at: Deutschland hat sich bereits 1998 offiziell zur Einwanderungsgesellschaft erklärt. Österreich ist davon noch entfernt. Was hat sich in Deutschland seither verändert?

Terkessidis: Nur wenig später nach der Erklärung wurde auch das „Gesetz zur Begrenzung der Zuwanderung" beschlossen. Das ist natürlich absurd: Es gibt einen immensen Bedarf an Zuwanderung in der Bundesrepublik. Was aber tatsächlich an Einwanderung stattfindet, ist lächerlich. Es gab in den vergangenen Jahren sogar einmal ein Negativsaldo - das heißt, es sind mehr Leute aus Deutschland abgewandert als zugewandert.

derStandard.at: Viele davon kamen nach Österreich.

Terkessidis: Ja, zum Beispiel. Aufgrund der Lage am Arbeitsmarkt ist Deutschland zu einem Land geworden, das man verlassen will. Auch unter den gut gebildeten jungen Leuten türkischer Herkunft merkt man eine starke Tendenz, in die Türkei zu gehen. Mit einer deutschen Ausbildung kann man da ja richtig was erreichen. Und wenn man in Istanbul gut beschäftigt ist, verdient man womöglich viel mehr Geld als in Deutschland und hat einen hohen Lebensstandard.

derStandard.at: Ist das Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft auch in den Köpfen der Menschen angekommen?

Terkessidis: Ja. Ich würde sogar sagen, dass sich in den letzten paar Jahren mehr verändert hat als in den dreißig Jahren zuvor. Bis zur Jahrtausendwende hat es die Fiktion gegeben, dass die Ausländer irgendwann mal wieder zurück gehen. Erst das Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft und bestimmte Änderungen im Staatsbürgerschaftsrecht haben dazu geführt, dass einem jetzt klar ist: Die gehen nicht mehr weg, die gehören zu uns. Das führte zwar einerseits zu einem sehr hysterischen Diskurs über Integration, wo man sagt: „Wir müssen die jetzt ganz schnell integrieren", was am Ende bedeutet, dass sie mit Hochdruck so werden müssen wie wir. Auf der anderen Seite hat es aber lokal auch zu einem richtigen Aufbruch geführt.

derStandard.at: Wie sieht dieser Aufbruch aus?

Terkessidis: In Heilbronn gibt es zum Beispiel 45 Prozent Bewohner mit Migrationshintergrund. Bei den Jugendlichen sind sie in der Mehrheit. Vom Roten Kreuz, das Ehrenamtliche sucht, bis zum Theater, das Besucher braucht, müssen sich in den nächsten Jahren all diese Institutionen darauf einstellen, dass sie mit dieser Bevölkerung konfrontiert sind. Deswegen gibt es einen immensen Aufbruch - aber nicht in der Bundesregierung, sondern nur auf der kommunalen Ebene. Wenn man den Bürgermeistern von Stuttgart Nürnberg oder Mannheim zuhört, dann merkt man, dass sie Vielfalt nicht als Problem, sondern als Potential sehen. Und dass es auch egal ist, ob die Menschen illegal in der Stadt sind - sie sind trotzdem Bürger von Stuttgart und man muss trotzdem Infrastruktur für diese Leute zur Verfügung stellen. Das ist eine neue Auffassung: Egal, wie flüchtig sich Menschen in einer Stadt aufhalten, sie gehören für diesen Zeitraum trotzdem zur Stadt dazu.

derStandard.at: Glauben Sie, dass man den eigenen Rassismus im Kontakt mit türkischen Polizisten oder tschetschenischen Lehrkräften schrittweise „verlernt"?

Terkessidis: Nein. Rassismus hat ja viel damit zu tun, dass Leute ihre Privilegien behalten wollen. Je mehr Menschen mit Migrationshintergrund in höhere Positionen kommen, desto stärker wird die Tendenz, diese Ansprüche zurück zu drängen. Man definiert, wer der Herr im Haus ist, um die Ansprüche der anderen zu bekämpfen.

derStandard.at: Sehen Sie den Rassismus in Deutschland also im Ansteigen?

Terkessidis: Möglicherweise. Natürlich sind auch die Briten rassistisch. Aber die machen das viel subtiler - der deutsche Rassismus tritt viel selbstverständlicher und offener auf. In Deutschland und Österreich ist es immer noch stark verankert, dass das Leute sind, die nicht dazu gehören. Eine Freundin, die türkischer Herkunft ist und eine eher dunkle Hautfarbe hat, ist kürzlich aus London zurück gekommen und hat mir erzählt, dass sie dort das Bewusstsein für ihr Gesicht verloren hat. Sie bekam im Gegensatz zu Deutschland dort einfach nicht zu spüren, dass sie „etwas anderes" ist. Das ist bezeichnend. Hier wird man ständig darauf aufmerksam gemacht, dass man fremd ist. Einem türkischen Bekannten, der Unfallchirurg ist, passiert es durchschnittlich einmal pro Woche, dass jemand zu ihm eingeliefert wird und sagt: „Von dem will ich nicht behandelt werden."

derStandard.at: Vor allem jüngere Menschen aus Zuwandererfamilien definieren sich aber zum Teil stark über die Herkunft der Eltern.

Terkessidis: Aber das ist ja eine Reaktion: In Deutschland gab es die Debatte über den Einwanderungtest. Die Latte für die Einbürgerung lag ja schon vorher sehr hoch - man musste eine nachweisen, dass man lange genug hier war, dass man die Familie ernähren kann, dass man genügend Wohnraum hat, dass man fünf Jahre in die Rentenkasse eingezahlt hat. Die Person, die Anrecht auf Einbürgerung hat, war also definitiv integriert. Als dann viele Menschen all diese Bedingungen erfüllen konnten, kam die Union mit dem Einbürgerungstest um die Ecke. Und das vermittelte den Leuten das Gefühl: „Aha, wenn ich also integriert bin, kommt einer und legt die Hürde noch höher." Psychisch ist dieser Effekt verheerend: Ich merke dann, dass ich hier einfach nicht ankomme, ich bin immer der Fremde. Und dann passiert die Reaktion, dass die Leute sagen: Habt mich doch gern, ich will gar nicht Deutscher werden.

derStandard.at: Manche meinen, aus der Rezession der Wirtschaft folge der Boom des Rassismus. Nun lesen wir jeden Tag von Massenkündigungen und Konkurswarnungen. Droht uns ein neuer rassistischer Boom?

Terkessidis: Schwer zu sagen. Die Krise löst natürlich Bedrohungsgefühle aus, die sich oft deshalb gegen Minderheiten richten, weil eine Konkurrenzsituation konstruiert wird, nach dem Motto: Warum hat der Kanake einen Job und ich nicht? Aber andererseits ist Rassismus auch konjunkturunabhängig: Bayern steht konjunkturell zum Beispiel sehr gut da, hat aber beim Ländervergleich in puncto Ausländerfeindlichkeit einen Wert von vierzig Prozent - und Nordrhein-Westfalen hatte 20 Prozent.

derStandard.at: Woran liegt das?

Terkessidis: In Bayern gibt es regional einfach keine Migranten. Im ländlich geprägten Umfeld kann man also unbehindert Leute mit Migrationshintergrund für alles verantwortlich machen - selbst für die eigene Angst vor der Stadt. Außerdem hat die bayerische Landespolitik ja immer versucht, den rechten Rand mitzunehmen -und nicht die Menschen mit Migrationshintergrund. In Nordrhein-Westfalen kann man nicht so offen rassistisch reden, wie man das in Bayern oder in den neuen Bundesländern kann.

derStandard.at: Viele Menschen scheinen diese Abgrenzung von den „Ausländern" ja zu brauchen, um sich selbst besser zu fühlen. Wer ständig auf die „wenig gebildeten, frauenverachtenden Türken" zeigt, stilisiert sich selbst zum hochgebildeten, emanzipierten Deutschen.

Terkessidis: Dieser Sexismusdiskurs ist interessant: Deutschland ist ja, wie auch Österreich, auf jeder EU-Statistik auf den hinteren Plätzen, was Gleichbehandlung von Mann und Frau angeht.  Dass man ausgerechnet hier ununterbrochen die muslimische Frau befreien will, ist absurd. In meinem Sportverein steht ein Sechzigjähriger vor mir und macht sich Sorgen über die Gleichberechtigung der türkischen Frau. Da fragt man sich: Hat er sich jemals Sorgen um die Gleichberechtigung seiner Ehefrau gemacht?

derStandard.at: Trotzdem brauchen Menschen kollektive Identitäten, in die sie sich einfügen können. Wenn Religion, Vaterland und Ideologie ausgedient haben, was bleibt dann noch übrig, um sich abzugrenzen?

Terkessidis: Es kommt wohl darauf an, eine andere Idee von Gemeinschaft zu entwickeln. Die Nation war ja immer eine Schicksalsgemeinschaft mit einer gemeinsamen Vergangenheit: Wir haben etwas durchgemacht, und das schweißt uns zusammen. In einer Einwanderungsgesellschaft wird diese Idee zum kompletten Unsinn: Wir haben keine gemeinsame Vergangenheit mehr. Worum es also geht, ist, eine Gemeinschaft der Zukunft zu werden. Denn das einzige, was wir teilen, ist eine gemeinsame Zukunft.

derStandard.at: Ist das nicht zu abstrakt? Die Zukunft ist doch eher etwas, was vielen Angst macht, als eine willkommene Identitikationsfläche.

Terkessidis: Finde ich nicht. Wenn etwas abstrakt war, dann die Idee der "deutschen Leitkultur". In Deutschland gibt es die Idee, dass früher alles besser war, dass wir von der Globalisierung platt gewalzt werden. Aber es gibt keine Vision für die Zukunft. Man muss die Zukunft zum Projekt machen. Und daran müssen wir so viele Leute wie möglich beteiligen. (derStandard.at, 2.3.2009)