London - Die Weltpresse präsentiert sich einen Tag nach der Vergabe des Literatur-Nobelpreises an die Deutsch-Rumänin Herta Müller äußerst gespalten. Während etwa in Schweden und der Schweiz die Auszeichnung als "gänzlich verdient" betrachtet wird, mokiert sich etwa die britische "Times" am Freitag unter dem Titel "Wer ist Herta Müller?" über das Auswahlverfahren des Preiskomitees. Und die französische Tageszeitung "Le Figaro" glaubt, dass sich über die Entscheidung wohl "allein die Feministen" freuen werden. Hier ein Überblick über die Pressestimmen:

Die konservative Tageszeitung "Svenska Dagbladet" (Schweden):

"Herta Müller ist eine ausgesprochen würdige Trägerin des Literaturnobelpreises. Ihre Romankunst hat die zwei Eigenschaften, die eine große Autorenschaft ausmachen: Eigenwillige Sprache und existenziellen Inhalt. Die blutige Geschichte Europas im 20. Jahrhundert hat viele große schriftstellerische Werke hervorgebracht. Herta Müllers gehören zu ihnen. Nicht dass sie eine deutliche Botschaft mit ihrem Schreiben anstrebt. Sondern sie findet einen Platz für europäische Erfahrungen kraft ihrer Sprache. Müller gibt dem Leser keine schnell verdaute Sahne. Aber wenn man einmal von ihr gefangen ist, sitzt man fest."

Die in Zürich erscheinende "Neue Zürcher Zeitung" (Schweiz):

"Die Deutschrumänin Herta Müller ist eine Autorin, die den Literaturnobelpreis gänzlich verdient. Nicht nur vereinigt sie in ihrem Schreiben zwei Sprachen und Kulturen, nicht nur verbindet sie in ihrem Werk Poesie und Prosa, Realismus und Avantgarde, Ideologie- und Sprachkritik, sie ist über ihre Ausreise aus Ceausescus Rumänien im Jahr 1987 hinaus eine dissidente Autorin geblieben, die mit der Wut und dem Mut der Verzweiflung gegen den Mehltau des Vergessens angekämpft hat. Es ist das Besondere an Herta Müller, dass sie - wie ihr Nobelpreis-Kollege Imre Kertesz - die Aufarbeitung des Kommunismus nicht nur als moralische, sondern als eine ästhetische Herausforderung begreift."

Die konservative Zeitung "The Times" (Großbritannien):

"Was haben Elfriede Jelinek, Imre Kertész und Wislawa Szymborska gemein, bitte? Sie haben alle den Literaturnobelpreis erhalten. Was haben Marcel Proust, James Joyce und Graham Greene gemein? Sie nicht. Borges verpasste den Preis, weil er rechtsradikale Diktatoren wie Pinochet unterstützte. Doch Sartre und Neruda, die öffentlich für Stalin eintraten, bekamen ihn zuerkannt. Schwedische Schriftsteller haben mehr Preise gewonnen als alle Schriftsteller Asiens zusammen. Die diesjährige Preisträgerin steht angemessenerweise auf der Seite der Unterdrückten des Ceausescu-Regimes. Einige idealistische Verleger werden nun auch ihre übrigen Werke auf Englisch herausbringen, um die Augen der nicht-deutschen Leser für diese neuen Dimensionen zu öffnen. Und das ist ebenso edel wie der Nobelpreis."

Die Tageszeitung "Le Figaro" (Frankreich):

"Es ist eine neue Enttäuschung für anerkannte Autoren wie Philip Roth, Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes, Claudio Magris, Amos Oz, Haruki Murakami und - nicht zu vergessen - den Dichter Adonis. Sie alle werden regelmäßig als Favoriten für den Preis gehandelt, der von einer Jury verliehen wird, dessen Motive nur schwer zu verstehen sind. Man erinnert sich zudem an Erklärungen von bestimmten Jury-Mitgliedern, die im vergangenen Jahr ankündigten, das Image des Preises mit der Auszeichnung von renommierten Autoren wieder aufwerten zu wollen. Allein die Feministen freuen sich darüber, dass nach der Britin Doris Lessing im Jahr 2007 und der Österreicherin Elfriede Jelinek im Jahr 2004 Herta Müller die dritte ausgezeichnete Frau in den sechs letzten Jahren ist."

Die linksliberale Tageszeitung "La Repubblica" (Italien):

"Herta Müller ist eine Reporterin des Lebens in der Angst vor der Diktatur. Sie war und ist nicht bereit zu vergessen, auch jetzt nicht, wo viele andere es vorziehen, den Mantel des Schweigens über die Vergangenheit zu breiten, jetzt, wo die Mauer gefallen ist und Ceausescu nicht mehr da ist. (...) Es ist dieser Sinn der poetischen Ethik, den die Nobel-Jury prämiert hat zusammen mit der 'konkreten Poesie' ihrer Werke."

Die liberale Tageszeitung "Gandul" (Rumänien):

"Das Sprichwort, man sollte sich hüten, interessante Zeiten erleben zu wollen, mag für jedermann gelten, nicht aber für Schriftsteller. Für sie sind interessante Zeiten die Garantie des Werks. Und ist das Werk stark genug, wirkt es wie ein Bumerang auf die Zeiten, die es erschaffen haben und warnt vor ihnen. Das geschah mit dem Werk von Herta Müller, die 20 Jahre nach dem Fall des Kommunismus mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. (...) Herta Müller könnte ein Beispiel für die rumänische Gesellschaft sein. Ein Zeichen, dass wir bei der Suche nach der Wahrheit nicht resignieren sollten, auf das Gedächtnis nicht verzichten dürfen, und dass von der Klärung der Vergangenheit unsere Gegenwart und Zukunft abhängen."

Die konservative Tageszeitung "Dziennik Gazeta Prawna" (Polen):

"Das diesjährige Urteil der Akademie wurde ohne Aufregung - wie eine weitere Nachricht des Tages - aufgenommen. Der Preis für Herta Müller ist kein Skandal (...) Es ist aber auch kein Ereignis, das irgend etwas in der Hierarchie der Weltliteratur ändern würde. Eine Prestige-Auszeichnung für die Schriftstellerin, die ohne Zweifel anständig, aber keinesfalls außerordentlich ist. Dieser Zustand wird zur Norm. (...) Entscheidend für das Urteil der Akademie werden immer mehr außerkünstlerische Gründe: politische Korrektheit, richtige (also gewöhnlich linke) Ansichten. Jedes Jahr wiederholen sich auf den Anwärter-Listen dieselben Namen - Mario Vargas Llosa, Philip Roth, Don DeLillo, Amos Oz. (...) Verlieren ihre Werke an Bedeutung, wenn sie nicht berücksichtigt werden? Auf keinen Fall. Dabei verliert aber der Nobelpreis selbst - heute ist er nur eine von vielen Auszeichnungen."

Die liberale Tageszeitung "Kommersant" (Russland):

"Es hat immer weniger Sinn, sich darüber zu beschweren, dass der Nobelpreis nun wieder nicht an jenen vergeben wurde, den wir bereits in unserem Herzen auserkoren hatten (...) Wenn man die inzwischen allen vertraute ethisch-politische Komponente mitberücksichtigt, von der die Wahl der Nobelpreisträger seit langem geprägt ist, nimmt sich die außerhalb der deutschsprachigen Welt wenig bekannte Herta Müller bei weitem nicht als eine zufällige Preisträgerin aus (...). Die ethisch engagierte Sichtweise, die das Nobelpreiskomitee seit Jahren vertritt, stellt Müller jetzt in eine Reihe aller nach dem Prinzip der politischen Korrektheit ausgewählten Schriftsteller, die gerechte Ideen verfechten oder Minderheiten und Unterdrückte schützen und eben wegen dieser Eigenschaft interessant sind." (APA)