Red Dead Redemption (Rockstar San Diego) ist für PlayStation 3 und Xbox 360 erschienen.

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Das Western-Genre ist in der Videospiel-Welt unterrepräsentiert. Bei entfernter Betrachtung eigentlich ein unverständlicher Zustand, ist die "Shooterei" doch längst zum zentralen Gameplay-Element mutiert. Da wäre ein Ausflug in die staubige Vergangenheit eine willkommene Alternative zu den virtuellen Kriegsschauplätzen der jährlich neu aufgegossenen Massenware, könnte man meinen. Nun, womöglich liegt der mäßige Erfolg an den bislang eher mittelmäßigen Umsetzungen. Von "Outlaw" bis "Call of Juarez" konnte trotz vereinzelter charismatischer Annehmlichkeiten noch kein Wild-West-Showdown wirklich vom Hocker reißen. Branchenanalyst Michael Pachter meinte noch vor wenigen Monaten (um die Aussage kürzlich erst zu revidieren), selbst eine hochklassige Interpretation des Themas würde nur eine Nische ansprechen können. Gibt es also keine guten Western-Spiele, weil sich eigentlich niemand dafür interessiert und daher auch keine großen Budgets bereitgestellt werden?

"Grand Theft Auto"-Entwickler Rockstar hatte dazu eine andere Ansicht, stellte mal ebenso kolportierte 80 bis 100 Millionen US-Dollar auf die Beine und machte sich mit "Red Dead Redemption" daran, alle Skeptiker eines Besseren zu belehren. Der Nachfolger des halbherzigen "Red Dead Revolvers" ist damit Hand in Hand mit "GTA IV" vielleicht nicht nur das teuerste Spiel aller Zeiten, sondern gleichzeitig der mit Spannung erwartete Beweis, ob Sporeneinsatz und Yeehaa-Schreie Gamer-Herzen höher schlagen lassen können oder das Genre zum pixelweisen Scheitern verurteilt ist.

Land der Gesetzlosen

Das Schöne an der Zeit der Gesetzlosen ist, dass deren literarischer Ergründung genauso wenig Grenzen gesetzt werden. Die Autoren von Rockstar San Diego bedienen sich bei der Schöpfung ihres idealisierten Grenzlandes ebenso etablierter Klischees wie geschichtlicher Gegebenheiten. Es sind die letzten Atemzüge des "Alten Westens" knapp vor der Jahrhundertwende. Mit der Eisenbahn hält allmählich die Industrialisierung und mit ihr auch die Zivilisation Einzug. In den Kleinstädten des nordamerikanischen Südwestens (New Austin und West Elisabeth) machen Sheriffs Jagd auf die aussterbenden Outlaws, während sich in Nordmexiko (Nuevo Paraiso) Rebellen und Regierungstruppen einen unerbittlichen Bürgerkrieg liefern. Die heldenhaften Abenteuer werden bloß durch Fauna und Flora zwischen Bergen und Prärie voneinander getrennt. Geier kreisen in der sengenden Hitze, Kojoten heulen der sternenklaren Vollmondnacht entgegen.

Outlaw wider Willen

Protagonist John Marston hat nach Jahren des Raubens seinem schmutzigen Handwerk abgeschworen, um mit Kind und Gemahlin der Idylle des Farmer-Lebens zu frönen. Wie es kommen muss, wird der ehemalige Outlaw von seiner Vergangenheit eingeholt, als eines Tages Agenten der zwielichtigen Bundesbehörde "The Bureau" vor der Tür stehen. Der Deal ist einfach wie die Bosheit selbst: Entweder schwingt man sich für das Gesetz in den Sattel, um seine einstigen Bandenmitglieder zu stellen oder der kleinen Familie geschieht etwas. Ein paar grimmige Blicke, zwei satte Einzeiler und schon ist das bewährt pikante Rockstar-Süppchen aus Intrige und Gewissenskonflikt gebraut.

Nostalgie soweit das Auge reicht

Für Marston beginnt damit die Konfrontation mit den Schatten seiner Vergangenheit und der Spieler wiederum wird auf eine fabelhafte Zeitreise geschickt. Wie in GTA darf man die Spielwelt frei erkunden. Dabei verschlägt es einen der Geschichte folgend zunächst in den fiktiven Süden Kaliforniens, um dort dem Treiben der kleinen Leute auf den Zahn zu fühlen. Kleinstädte sprießen wie Kakteen aus dem Boden. Zweistöckige Holzhäuser reihen sich um eine Durchzugsstraße, lassen Platz für Gemischtwarenhändler und Barbiere. Arzt und Saloon winken einander über den unbefestigten Weg zu, Bank und Sheriff behalten einander gut im Auge. Eisenbahnstation und Kirche schnüren wie umseilte Eckpfeiler die Gesellschaft zusammen. Aber der Schein trügt, Raufbolde liefern einander in Freudenhäusern Schlägereien, Bordsteinschwalben werden wegen ein paar Münzen gleich niedergestochen. Der Sheriff hängt verzweifelt Wanted-Plakate aus und jeder darf zum kaltblütigen Kopfgeldjäger werden.

Es gibt immer was zu tun

Über die Prärie hinweg zeichnet sich das in Kinderjahren gedanklich abgespeicherte Bild der unendlichen Möglichkeiten. Als Lonesome-Man jagt man zwischendurch Büffel oder Kleingetier, um sich mit Fellen und Fleisch etwas dazu zu verdienen. (Über 40 Tierarten hausen im eigens kreierten Ökosystem der digitalen Wildnis.) Abseits des Haupthandlungsstranges gibt es jedenfalls allerlei Wege Zeit tot zu schlagen. Mal bittet ein Hilfsbedürftiger am Straßenrand sein von Schurken besetztes Haus zu befreien, ein anderes Mal eskortiert man eine Postkutsche. Je nach dem, wie man sich entscheidet, erntet man für gute Taten Ruhm, während man für Bösartigkeiten gefürchtet wird. Sollte man selbst Unschuldige wegpusten, wird ein Kopfgeld ausgesetzt und man sollte sich schleunigst aus dem Staub machen oder den geforderten Betrag selbst einlösen. Ob man Flüchtige mit dem Lasso einfängt oder ihnen eine Kugel in den Rücken schießt, steht einem ebenso frei. Friedlichere Abenteurer erstehen Schatzkarten und suchen ihr materielles Glück unter verdächtig aussehenden Felsvorsprüngen. Auf der Durchreise hält man für Poker-Partien an Saloons oder genießt einen Stummfilm in der Kirche. Hoch zu Ross inhaliert man die vorüberstreichende Natur, mit der Postkutsche darf man längere Strecken aus Bequemlichkeit gleich überspringen. Immer Richtung Süden kreuzt man schließlich den San Luis River und mündet in den Wirren des mexikanischen Bürgerkrieges.

Auge um Auge

Zur Erfüllung seines Auftrages wechselt Marston gezwungener Maßen oftmals die Seiten und lernt dabei allerlei schräge und im Südstaaten-Jargon erstklassig gespielte Charaktere kennen. Ihr Gespür für schwarzen Humor artikulieren die Autoren mit ebenso kuriosen Situationen. Als Marston etwa den Rebellen helfen soll, ein Fort einzunehmen, erwischt er den Anführer gerade beim Austausch von Körperflüssigkeiten mit einer Dirne. Ein anderes Mal ruft man einen alten irischen Trunkenbold zur Hilfe, um eine Gatling Gun aus einem Banden-Versteck zu erobern. An die hundert Synchronsprecher und viele weitere Statisten liefern eine Show des herben Spaßes und politisch unverfänglich interpretierter Klischees ab. Die vorrangig verstandene Sprache ist dennoch bleibeschlagen. Bei der Konfrontation mit den ehemaligen Kameraden übt man den gepflegten Umgang mit dem Schießeisen. Holt mit der Winchester auf Scheunendächern verschanzte Heckenschützen herunter oder mischt mit Dynamit die feindliche Kavallerie auf. Einprägsam animiert hebt es getroffene Reiter aus dem Sattel und wirbelt einer Fontäne Blut vorausgehend durchsiebte Hüte durch die Luft. Wie Neo in der Matrix darf für cineastisch anmutende Trickschüsse kurzfristig die Zeit verlangsamt werden. Die Inszenierung ist blutig und weniger comichaft, als man es von GTA kennt, dennoch ist den überzeichneten Animationen immer wieder ein hämisches Grinsen abzugewinnen.

Sound of Silence

Bei den Missionen und Szenerien ließen sich die Schöpfer sichtlich vom Kino der 1960er- und 1970er-Jahre inspirieren. Besonders ans Herz gewachsen sein dürfte "The Wild Bunch" (Sam Peckinpah), dessen schießwütige Desperados sich ebenso so gut in Red Dead Redemtion machen würden, wie auf Zelluloid. Bei Überfällen auf Züge oder der Jagd nach Mördern trägt zu einem Großteil die erstklassige Musik zur Spannung bei. Zwar verzichtete man im Gegensatz zum Vorgänger auf die Mundharmonika Ennio Morricones, die dynamischen Klavier- und Orchestereinsätze tragen die visuellen Stimmungswechsel aber ebenso gut an die Ohren. Besonders feinfühlig gelingt der Übergang im Einklang mit dem Wetterumschwung. Während in der romantischen Morgenröte den Sonnenstrahlen Platz in der Stille gelassen wird, schlägt bei Regen das Klavier wie herniederprasselnde Tropfen an. So kommt es, dass man sich beim Päuschen an den Klippen eines Canyons oder beim Austausch mit Fremden am Lagerfeuer tatsächlich wie ein einsamer Cowboy fühlt - oder zumindest so, wie man sich das eben vorstellt.

Technisch Licht und Schatten

In der schieren Weite des enormen Spielfeldes haben es die Effektspezialisten tatsächlich geschafft, aus Stock und Stein beeindruckende Szenerien zu schaffen. Im 24-Stundenrhythmus verändern Licht und Schatten fortwährend die Stimmungslage. Schnee bedeckte Wälder im Norden beherbergen Bären, während der weiße Sand im Süden bläulich im Mondlicht schimmert. Im Galopp geht es durch Sumpfgebiete und klaustrophobische Schluchten. Getrübt wird der Sinnesgenuß lediglich von immer wieder eintretenden Fehlern. Mal bleibt ein Hund im Zaun stecken oder ein Mitstreiter schafft es nicht aus der Haustür. Während die vielen kleinen Schnitzer in einem Openworld-Game verzeihlich sind, müssen sich die Programmierer aufgrund der teils schlampigen Umsetzung für die PlayStation 3 schon mehr Kritik gefallen lassen. Im Vergleich zur Xbox 360-Version wurde die Auflösung heruntergeschraubt (640p statt 720p) und auf eine Kantenglättung komplett verzichtet. Das Resultat ist ein deutlich unruhigeres Bild und matschigere Texturen. Bei einer 80 bis 100 Millionen-Dollar-Produktion darf so etwas eigentlich nicht passieren. Als Konsument hat man jedes Recht sich gefrotzelt zu fühlen. Rockstar hätte ein Abstecher zu den PS3-Bändigern Naughty Dogs, die mit "Uncharted 2" (neben "God of War III") das zurzeit technisch vielleicht beeindruckendste Konsolenspiel stellen, jedenfalls gut getan.

In der Posse ins Chaos

Den Spielspaß können aber selbst die ärgerlichsten Unzulänglichkeiten nicht trüben. Wirklich ans Herz zu legen, ist die gemeinschaftliche Eroberung des Westens in einer Posse mit bis zu 7 Kollegen. Wahlweise darf man über die gesamte Spielwelt Chaos und Unsinn verbreiten und gemeinsam Abenteuer und kleinere Missionen bestreiten. Oder man steigt in klassische Spielmodi (Deathmatch, Team Deathmatch, Gold Rush und Team Gold Rush) ein, um gegen menschliche Gegenspieler sein Können unter Beweis zu stellen. Witzig ist hierbei auch der Start in jede Runde in Form eines mexikanischen Duells, wobei sämtliche Teilnehmer im Kreis aufgestellt mit der Pistole den Last-Man-Standing ermitteln. Wer überlebt, hat einige Sekunden Vorsprung sich zu verschanzen oder sich die beste Waffe zu besorgen. Völlig daneben geraten ist leider die Menüführung. Bis man verstanden hat, wie man zwischen Private-Mode und Public-Mode, Freeroaming und diversen Bewerben Freunde einlädt oder eine Posse erstellt, können schon viele viele Minuten verstreichen.

Fazit

Red Dead Redemption spielt sich genauso, wie man es sich erhoffen würde. Es ist das erste Spiel, das diesem klassischen Genre gerecht wird. Die Geschichte zehrt von guten Filmvorlagen ebenso, wie von Rockstars Kunst zu erzählen und markante Charaktere zu zeichnen. Die Kulissen bezaubern trotz des oftmals fehlenden technischen Feinschliffs. Aber viel wichtiger ist, dass es einfach Freude bereitet, den Outlaw wider Willen zu mimen. Dabei werden tatsächlich kaum Grenzen gesetzt, um seinen Kindheitsfantasien freien Lauf zu lassen. Ein größeres Geschenk hätte man Western-Fans kaum machen können. (Zsolt Wilhelm, derStandard.at, 24.5.2010)