John Twelve Hawks: "Traveler. Das Finale"
Gebundene Ausgabe, 413 Seiten, € 20,00, Page&Turner 2010.
Hand auf's Herz: Wer fühlt sich durch das inflationäre Auftreten von Sicherheitskameras wirklich sicherer? Immerhin: Wer Opfer eines Happy Slappings in der U-Bahn wird, kann sich jetzt nachträglich seine Misere in der TV-Berichterstattung ansehen ... aber ist das gleichbedeutend mit Sicherheit? 2005 startete der angeblich allen Netzen abholde Autor mit dem Pseudonym "John Twelve Hawks" seine "Traveler"-Trilogie, deren Abschlussband nun erschienen ist. Der richtige Lesestoff für alle, die die jährliche Vergabe der Big Brother Awards mit Interesse und die Wege der Einsatzkommandos von Google Street View mit Argwohn betrachten - und die zu den aktuellen Querelen um Facebook sagen: "Ich hab's ja schon immer gewusst." Alleine schon wie die RomanprotagonistInnen in den Vorgängerbänden (hier der Rückblick) einen ausgeklügelten Parcours laufen, um den omnipräsenten CCTV-Cams zu entgehen, wird den einen oder die andere dazu verleiten, künftig etwas genauer zu schauen, wo man im öffentlichen Raum überall beobachtet wird. - Wir reden hier nicht von Paranoia, schließlich sind wachsende Überwachung, Datenweitergabe und die schleichende Erosion der Privatsphäre prägende Entwicklungen unserer Zeit. Der verschwörungstheoretische Aspekt kommt erst da ins Spiel, wo der Autor mit erlaubter dichterischer Freiheit sämtliche Phänomene auf eine einzige lenkende Macht im Hintergrund zurückführt.
Diese Macht ist die Bruderschaft der Tabula, die seit Anbeginn der Zivilisation eine total kontrollierte Gesellschaft anstrebt. Ihr Ideal ist das Panopticon, ein vom britischen Philosophen Jeremy Bentham entwickeltes gefängnisartiges Gebäudeprinzip, das umfassende Überwachung aller BewohnerInnen (bzw. Insassen) ermöglicht. Die Technik des 21. Jahrhunderts rückt dieses Konzept erstmals in den Bereich des Verwirklichbaren, und zwar auf globaler Ebene. Natürlich regt sich dagegen Widerstand - in dessen Kern die Traveler stehen: Visionäre, die Kraft ihres Geistes andere Welten bereisen und somit alternative Lebensweisen aufzeigen können. John Twelve Hawks spitzt diesen fundamentalen Konflikt sogar noch weiter zu, auf einen Bruderkrieg: Michael und Gabriel Corrigan sind Söhne eines Travelers und beide ebenfalls mit der Gabe ausgestattet. Doch während Gabriel den Widerstand leitet, ist Michael in die Tabula eingesickert, übernimmt nun sogar deren Führung und gleitet nach und nach in einen Machtwahn ab: Skrupellos "beendet er die Geschichten" lästig gewordener MitarbeiterInnen und fördert eine Politik der Angst: Inszenierte Terroranschläge und Kindesentführungen sollen die Bevölkerung weichklopfen und für die Produkte der Tabula empfänglich machen: Vom Norm-All-Programm, das biometrisch den Gemütszustand misst, bis zum Schutzengel-Chip für Kinder.
Die gegensätzlichen Weltentwürfe der beiden Brüder äußern sich in zwei Kapitel-langen Manifesten: Eine Ansprache von Michael an seine Firmenbelegschaft und eine von Gabriel an die Öffentlichkeit. Rein stilistisch ist es immer etwas problematisch, wenn ein Romanautor vorübergehend die Romanform verlässt, um sich aus dem Munde einer Hauptfigur direkt an die LeserInnenschaft zu wenden (so liest sich die Videobotschaft Gabriels an die Welt zwar ehrenwert ... doch darf bezweifelt werden, dass sie in der geschilderten Form als Video wirklich von Computer-NutzerInnen weltweit zur Kenntnis genommen würde). Die Absicht stört hier etwas die Ausführung - dass Twelve Hawks auch sehr gelungene Passagen schreiben kann, zeigt er da, wo es um Lokalkolorit geht. Etwa im Satz "Alte Renaults kommen zum Sterben nach Kairo" oder in der Beschreibung von Zokus (subkulturellen "Stämmen" von Jugendlichen) in einem japanischen Park, wo sich Rockabillys dicht an dicht neben Goths, "Zombies" und Faschisten zur Schau stellen. Geradezu rührend ist es, wenn der Kampfsportler Hollis Wilson auf seine ganz persönliche Queste geschickt wird und in einem abgelegenen japanischen Dorf landet, in dem nur noch die Alten geblieben sind: Immer wenn er für sie eine Arbeit verrichtet, die Muskeleinsatz erfordert, geht ehrfürchtiges Raunen und Klatschen durch die Mummelgreise.
Diejenigen, die die vorangegangenen Teile gelesen haben, wird es interessieren zu erfahren, dass in Teil 3 (im Original: "The Golden City") einige zuvor nur erwähnte Sphären besucht werden - Parallelwelten, die mit der unseren verbunden sind; darunter auch eine, die sich als totalitäre Weiterdenkung des platonischen Staats aus der "Politeia" erweist. Dass ein Traveler per Astralleib reist, in der neuen Welt aber offenbar wieder einen feststofflichen Körper besitzt (während sein "alter" noch daheim liegt), ist ein Widerspruch, der nicht geklärt wird. Überhaupt wird im "Finale" der Trilogie mehr denn je mit esoterischen Elementen gespielt: Zwischen den Welten liegen Barrieren aus den Elementen Erde, Feuer, Wasser und Luft, mehrfach wird in recht platter Weise gesagt, dass man in der Antike noch das Wissen hatte, wie man in andere Sphären reist, und alle Hoffnung im Kampf gegen das Überwachungssystem beruht auf dem Licht, das in jedem lebendigen Wesen leuchtet. Eine ungewollt ironische Metapher, denkt man an einen anderen Technologiekritiker: Paul Virilio bezeichnete Überwachungskameras als Teil des "indirekten Lichts", weil sie zuvor Ungesehenes sichtbar machen.
So vage eine der Hauptfiguren den Begriff "Spiritualität" findet, so unklar bleibt auch die Rolle der Religion. Teilweise wird darüber geätzt - Moses' brennender Dornbusch als "verkokelte Pflanze" -, gleichzeitig ist aber auch eine eindeutige Häufung von Geistlichen im Widerstand festzustellen. Und wenn Gabriel sich von der Runde seiner AnhängerInnen verabschiedet, dann erinnert er nicht zu knapp an einen Guru, der seine Gemeinde segnet. Insgesamt haben die "Traveler"-Romane eine ähnliche Entwicklung wie eine andere Trilogie genommen, nämlich "Matrix". Wenn es dann an die zentrale Botschaft geht, nämlich Eigenverantwortung zu übernehmen, stellt sich letztlich allerdings die Frage, wozu überhaupt die Eso-Schiene befahren werden musste. - An dieser Stelle sei aber noch eingeflochten, dass Band 3 zwar der schwächste Teil der Trilogie ist, dabei aber immer noch spannend - dafür sorgen alleine schon die diversen Kampfsporteinlagen der Harlequins, der resoluten BeschützerInnen der Traveler. Die dürften auch nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass sich 20th Century Fox bereits die Filmrechte an der Trilogie gesichert hat.
Obwohl der Roman "Finale" heißt, tun sich in ebendiesem einige unerwartete Leerstellen auf. Wer weiß, vielleicht stützt der Eindruck, dass hier etwas unvollständig geblieben ist, ja die Meinung derjenigen, die glauben, dass sich hinter "John Twelve Hawks" die Autorin Kage Baker verbarg, die im Jänner dieses Jahres verstorben ist. - Das hieße aber wirklich nur einen Namen aus den zahllosen, die im Netz kursieren, herauszugreifen. Drei Möglichkeiten gibt es im wesentlichen: a) es handelt sich um einen Autor, der es mit der Botschaft seiner Romane wirklich ernst nimmt und eine totale Offline-Existenz führt. b) es ist ein wirksamer Marketing-Trick - oder c), durchaus mit b) kompatibel, es handelt sich um eine/n Autor/in, der/die nicht mit dem für die Trilogie gewählten Genre in Verbindung gebracht werden will, weil er/sie sonst ganz andere Bücher schreibt. Wer die Antwort weiß: Pst, verraten Sie's nicht dem System!