Arthur Brehmer (Hrsg.): "Die Welt in 100 Jahren"
Gebundene Ausgabe, 319 Seiten, € 20,40, Olms Verlag 2010.
Am Ende des Jahres ist es ja Tradition Rückschau zu halten. Nachdem sich diese Rubrik der phantastischen Literatur verschrieben hat, soll aber auch das in spezieller Form erfolgen: Nämlich durch einen Blick auf die Dinge, die da hätten kommen können ... bei höchst wechselhaftem Wahrscheinlichkeitsgrad allerdings. 1909/1910 versammelte der Publizist Arthur Brehmer 23 damals prominente AutorInnen und bat sie um Prognosen für "Die Welt in 100 Jahren", also unser Jahr 2010. Der Olms Verlag hat dieses Buch nach Ablauf der Frist nachgedruckt ... und es ist kurz gesagt ein einziges riesiges Vergnügen. Zum einen ergibt sich dieses aus dem Staunen über korrekt vorhergesagte Phänomene unserer Gegenwart (Handys und Tele-Shopping wurden ebenso antizipiert wie Lichtverschmutzung und die Strategie der atomaren Abschreckung). Zum anderen natürlich aus den teilweise spektakulären Fehlschlägen - die umso komischer wirken, weil just die irrigsten Annahmen im unerschütterlichsten Brustton der Überzeugung geäußert wurden. Etwa wenn Charles Dona Edwards über den Sport in unserer Zeit mutmaßte, dass dieser nur noch in der Luft und im Wasser ausgetragen würde, während neuere gegenwärtige Sportarten, die auf der Erdoberfläche getrieben werden, ganz zweifellos als solche verschwinden werden.
AutorInnen utopischer Literatur bleiben stets Kinder ihrer Zeit und neigen zum Überbewerten aktueller Entwicklungen. Elektrizität als Alltagsanwendung war damals noch neu genug, dass man hoffen konnte, ihr Potenzial sei bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Warum also keine "elektrischen Zyklonwellen", mit denen man die Bevölkerungen ganzer Städte auf einen Schlag von sämtlichen Krankheiten heilen könnte? Oder "elektrische Wärmewellen", die den Winter vertreiben? Im Prinzip war dies aber schon damals die Science Fiction von gestern, der eigentliche Hoffnungsträger trug einen anderen Namen: Im Aufsatz "Das Jahrhundert des Radiums" schwärmt der Naturwissenschafter Everard Hustler von einer strahlenden Zukunft. Nicht nur sämtliche Energieprobleme wären mit dem neuentdeckten Wunderstoff für immer gelöst. Gebäude würden mit radioaktiven Anstrichen überzogen, um von selbst zu leuchten und elektrische Lampen überflüssig zu machen. Und so ganz nebenbei könnte das Element dabei auch noch seine "wohltätige Heilwirkung" auf die BewohnerInnen ausüben. Schließlich sei Radium - und da stimmen andere AutorInnen in ihren Beiträgen vollkommen zu - ein unfehlbares Mittel gegen Krebs, gegen Tuberkulose (eine Illustration zeigt einen Radium-Inhalationsapparat) und sogar gegen Blindheit. Ein Zeitalter völliger Krankheitslosigkeit stehe unmittelbar bevor und mit ihm die Vollendung des Menschengeschlechts: Hochgewachsen, schön, gesund, ewig jung ... und glowing in the dark like Madame Curie's lover, wie die Band Algebra Suicide einmal sang.
Eine andere Prognose zur Anwendung der Radioaktivität war da schon realistischer: Sowohl Hustler als auch Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner sahen Waffen voraus, deren Einsatz auf Knopfdruck (!) so schrecklich wäre, dass sie den Weltfrieden geradezu erzwingen würden - also das, was später als "Gleichgewicht des Schreckens" die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägen sollte. Auch wenn 1910 eher an gebündelte Radiumstrahlen als an Atombomben gedacht wurde. - Neben Radium war offenbar die beginnende Luftfahrt der neuste heiße Scheiß jener Tage, mit Auswirkungen auf alle Lebensbereiche: Ein Autor postuliert, dass die Bildhauerei im Gegensatz zur aussterbenden zweidimensionalen Malerei neue Impulse erhalte, weil sämtliche Skulpturen künftig so beschaffen sein müssten, dass sie auch aus der Perspektive von Luftpassagieren was her machten. Und natürlich würde die Luftfahrt - durchaus zutreffend - das Wesen des Krieges für immer verändern. Ein Regierungsrat Rudolf Martin mutmaßt, dass die europäischen Luftschiffe aber nur noch gegen Neger und andere Stämme in Afrika zum Einsatz kämen, denn Europa würde 2010 - Treffer! - längst eine liberale Staatengemeinschaft bilden. So ganz scheint Martin der Gedanke an eine friedliche Koexistenz aber nicht behagt zu haben - das Herz geht ihm erst auf, wenn er in "Der Krieg in 100 Jahren" schildern kann, wie die überlegenen europäischen Luftflotten das aufmüpfige China und Japan in die Unterwürfigkeit zurückbomben.
Das, was man heute eine eurozentristische Perspektive nennen würde, zieht sich durch sämtliche Beiträge. Carl Peters, eine rassistische Galionsfigur des deutschen Kolonialismus, schildert ein fiktives Gespräch deutscher Kolonialherren in Afrika mit einem beinahe hellsichtigen Moment ("Die Welt ist wesentlich englisch geworden.") inmitten eines herrenmenschlichen Wusts ("Allemal, damit gehört sie immerhin einer vornehmen Rasse an."), der nur konkurrierende Imperialmächte zur Kenntnis nimmt, nicht aber einheimische Gesellschaften. Auf harmlosem Gelände, aber doch auch bezeichnend, schwadroniert der österreichische Komponist Wilhelm Kienzl in seinem Beitrag "Die Musik in 100 Jahren" launig-akademisch über Tonsysteme und Chorgrößen - kein Gedanke an etwaige Einflüsse aus anderen Kulturen (und damit zu so etwas wie Jazz, Rock oder HipHop führend). Ganz offensichtlich konnte sich keine/r der AutorInnen auch nur vorstellen, dass die Welt der Zukunft von etwas mitgeprägt sein könnte, das nicht in einem feingeistigen europäischen Salon erdacht (und gesteuert) wurde.
Der in Sachen Treffsicherheit verblüffendste Beitrag stammt von Robert Sloss und heißt "Das drahtlose Jahrhundert". Das Telephon in der Westentasche, so Sloss, wird 2010 jeden mit jedem verbinden: Man stellt bloß die gewünschte Nummer ein, schon vibriert's beim Empfänger - außerdem kann man mit dem kleinen Ding Nachrichten abrufen, Musik hören und Filme ansehen. Man kommt zu Tele-Konferenzen zusammen und ist bei Katastrophen, die sich irgendwo auf der Welt ereignen, stets live dabei: Die ganze Erde wird nur ein einziger Ort sein, in dem wir wohnen. Und das mehr als 50 Jahre, bevor Marshall McLuhan den Begriff vom "Global Village" etablierte! Sauber daneben gelegen hat Sloss nur mit der Vermutung, dass die drahtlos vernetzte Welt den meisten Verbrechen ein Ende machen und ein Jahrhundert der Moralität einläuten werde. (Andere AutorInnen glauben ebenfalls an das Ende der Kriminalität ... nur noch wenige "Enthusiasten" ließen sich 2010 zu Schandtaten hinreißen.) Denn so gut manche Prognosen in Sachen technischer Entwicklung waren, so sehr gerieten die AutorInnen auf dünnes Eis, wenn sie gesellschaftliche Entwicklungen andachten.
Der US-Chemiker Hudson Maxim beispielsweise landet mit Voraussagen zu Telekommunikation, Atomkraft und medial begleiteten Kriegen einige Treffer - seine ebenso naive wie unbarmherzige Vision vom Strafvollzug unserer Tage wurde glücklicherweise aber nicht verwirklicht: Statt in Gefängnisse schiebt man Kriminelle in eine eigene Kolonie ab, in der sich der Abschaum der menschlichen Gesellschaft an Büchereien und Kunstgalerien erfreuen kann - doch erst, nachdem er seiner Fortpflanzungsfähigkeit beraubt wurde, damit das sich forterbende Stigma verbrecherischer Neigungen nicht weiter den Gen-Pool versaut. Wie schnell man doch von philanthropischen zu rassehygienischen Vorstellungen kommt ... Allerdings war Maxim offensichtlich nicht nur in Bezug auf den Volkskörper ein Mann der Rosskuren: So schlägt er beispielsweise vor, dass zur Ausmerzung von Krankheiten am besten der ganze menschliche Körper mit einem Desinfektionsmittel durchgespült werden sollte. Sein Beitrag heißt übrigens "Das 1000-jährige Reich der Maschinen", was damals aber noch eine rein biblische Anspielung war.
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass das Buch im originalen Satz nachgedruckt wurde, was auch bedeutet: in Fraktur! Doch keine Sorge, man gewöhnt sich rasch an die fremd gewordenen Typen und ist nach wenigen Seiten im gewohnten Lesetempo unterwegs. Wäre auch zu schade gewesen, das Layout umzustoßen, in dem der Textkörper mit den Seitenornamenten und vor allem den zahlreichen zwischen Jugendstil und Steampunk angesiedelten Original-Illustrationen Ernst Lübberts eine wunderschön anzuschauende Einheit bildet. Die Bilder reichen von Aeroplanen und "Lufthäusern" bis zu Heimelektronik für jedermann, gewagten Prognosen in Sachen Mode (unter dem Titel "Ein Empfangstag in 100 Jahren" beispielsweise bestaunt man die typische Damenfrisur des Jahres 2010, für die man die Bienenkörbe von Kate Pierson, Amy Winehouse und Patsy Stone übereinanderstapeln müsste) sowie allegorischen Darstellungen. Besonders bezaubernd das Sujet "Die Liebe der Zukunft beruht einzig und allein auf den radioaktiven Sympathiestrahlen der Seele und des Herzens".
Durch die Bank sind die AutorInnen davon überzeugt, dass sich im Zuge des rasanten technischen Wandels die Weiter- und Höherentwicklung des Menschen wie von selbst ergeben wird. Auch physisch: Offensichtlich war damals gerade die These im Umlauf, dass die Menschen seit dem späten 19. Jahrhundert ein weiteres Farbspektrum wahrnehmen könnten als ihre Vorfahren in weniger gebildeten Zeiten - nur logisch also die Extrapolation, dass das menschliche Auge in unserer Zeit auch Röntgenstrahlen sehen würde. Vor allem aber schreite unsere ethische Entwicklung unaufhaltsam in Richtung Göttlichkeit voran. Da liest sich der satirische Beitrag "Die Frau in 100 Jahren" der schwedischen Schriftstellerin Ellen Key umso erfrischender: Mit Elan entwirft sie eine dystopische Brave New World, in der man eine Impfung gegen Originalität und Individualitätssucht erhält, und in der die Kinder in Heimen lernen, "nach neuen Methoden Zähne zu bekommen" ... um schließlich zum entscheidenden Punkt zu gelangen: Nämlich dass vor jedem Fortschrittsoptimismus erst mal definiert werden müsse, was Lebensqualität bedeutet. Für die meisten ihrer Ko-AutorInnen scheint das eine klare Sache gewesen zu sein: Es geht vorwärts, aufwärts mit der Menschheit; alles wird besser, das Leben schöner, leichter, länger. Notfalls mit Gewalt.