Eine kleine Liebe, ein kleines Glück und die Erkenntnis, dass ein verrücktes Herz besser als ein kaltes ist: Julya Rabinowich.

Foto: Marko Lipus

Wien - Gleich auf den ersten Seiten ihres vielbeachteten Debütromans Spaltkopf (2008) gibt Julya Rabinowich einem kleinen Mädchen, das im Flugzeug sitzt und entgegen seiner Erwartung nicht von St. Petersburg in den Urlaub, sondern in die Wiener Emigration fliegt, ein paar Lektionen mit. Die erste, an Rilke angelehnte, lautet: "Wer jetzt verrückt wird, wird es lange bleiben. Wird lesen, wandern, lange Briefe schreiben."

Seit Julya Rabinowich 1970 in eine St. Petersburger Künstlerfamilie hineingeboren, sieben Jahre später "entwurzelt" und nach Wien "umgetopft" wurde, hat sie nicht nur sieben Theaterstücke, diverse Anthologiebeiträge (vorwiegend für Sammelbände der feinen Edition Splitter) und eben den Spaltkopf geschrieben, sondern auch sonst einiges gemacht. Eine Dolmetschausbildung etwa und ein Studium an der Angewandten (Schwerpunkt Malerei, Meisterklasse Christian Ludwig Attersee), dazu arbeitet sie als Dolmetscherin bei Psychotherapiesitzungen mit Flüchtlingen. Es gibt somit einiges - Vielseitigkeit, Frau, russisch, jüdisch, "Migrationshintergrund" -, das dazu angetan ist, das mediale Interesse vom Werk der Autorin hin zu ihrer Person zu verlagern. Schnell glaubte man, eine "Spezialistin in Sachen Entwurzelung und Zerrissenheit" gefunden zu haben. Allerdings sind dies, wie "Frauen-" oder "Migrantenliteratur", Zuschreibungen, die Rabinowich von sich weist.

"Menschen schreiben menschliche Literatur - auch unmenschliche. Weitere Unterscheidungen finde ich nicht sinnvoll", sagte sie dazu einmal in einem Interview. Mehr als das Verallgemeinernde, Nivellierende interessiert die Schriftstellerin Julya Rabinowich das Persönliche und Individuelle: Das Schicksal, die Brüche, Verwerfungen, die Risse, die sich durch jedes Leben ziehen. Diese Brüche vollziehen sich, davon handelt Spaltkopf, jedoch immer plötzlich und unwiederbringlich, von einer Sekunde zur anderen.

Mit einer unvermittelten Kippbewegung beginnt auch Rabinowichs neues Buch Herznovelle (Deuticke Verlag). Eine Frau, die Ich-Erzählerin, steht vor dem halb geöffneten Badezimmerschrank, im Spiegel sieht sie ihren besorgten Mann Bernhard: "Ich schließe die spiegelnde Tür, sein Gesicht gleitet mit ihr zur Seite, weg aus meinem Gesichtsfeld (...)" Die Erzählerin rüstet sich zu einem Spitalsaufenthalt, man wird sie am Herz operieren. Nach der erfolgreichen Operation wird sie hingegen nicht nur Bernhard, sondern auch ihr ganzes Leben zeitweise aus dem Blickfeld verlieren.

Liebeskrankheit

Denn der Arzt, der sie operierte, hat ihr Herz nicht nur im eigentlichen Sinn (während des Eingriffs), sondern auch emotional berührt. Dieser Herzspezialist wird nun zum obsessiv verfolgten Ziel der von der Herz- zur Liebeskranken mutierten Erzählerin. Könnte es nicht sein, dass mit ihm ein neues Leben möglich wäre, abseits der Eheroutine mit adrettem Eigenheim, Sicherheit und Seelensushi in Form ausgedehnter Shoppingtrips?

Nein, kann es nicht. Zwar verfolgt, nein stalkt sie den Arzt hartnäckig, lässt sich unter einem Vorwand abermals einweisen, um ihn wieder zu sehen. Doch er entzieht sich, und anders als in Schnitzlers Traumnovelle , auf die sich Rabinowich bezieht, ist es hier der Mann, der sagt: "Bitte gehen Sie, (...), gehen Sie jetzt." Die Erzählerin zieht sich schließlich wieder zurück in ihr trautes Heim und ihr Leben, das nicht mehr das alte ist.

Erzählt wird die präzise strukturierte Novelle in kurzen, mit Traumsequenzen und lyrischen Passagen ergänzten Episoden. Gekonnt wird der Leser nachhaltig in die mit Farbsymbolen aufgeladene Traum- und Sehnsuchtswelt der Herzversehrten gezogen. Eine Welt, die sich am Schluss in nichts auflöst.

So könnte die Herznovelle ein todtrauriges Buch sein, wäre da nicht der feine Humor der Erzählerin, der sich durch das Buch zieht und die Frau vielleicht doch noch retten wird. In Spaltkopf hat das Deutsch lernende Mädchen ein Lieblingsmärchen, "Das kalte Herz". Es hat es ihr angetan, denn "sich das Herz aus der Brust zu reißen, um das Glück zu finden. Trügerisches Glück, trügerische Wünsche und deren Erfüllung beeindruckten sie."

Auch wenn am Ende der Herznovelle nur ein kleines Glück und eine kleine Liebe erreicht werden, bleibt die Hoffnung, nein, die Erkenntnis, dass ein verrücktes Herz allemal besser ist als ein kaltes. (Stefan Gmünder/ DER STANDARD, Printausgabe, 12./13.2.2011)