Jeder Einzelfall ist unglaublich: Meischberger fragt Grasser, was seine Leistung war. Ein nationalistischer Lokalpolitiker verscherbelt einem Russen die österreichische Staatsbürgerschaft. Dann die Videoüberwachung am Strasserstrich. Sein Nachfolger ist ausgerechnet ein Lobbyist, der seine Firma in Brüssel an der Adresse von Othmar Karas angemeldet hat. Gleich darauf will die Wirtschaftsexpertin dieser Fraktion ihre Millionenschulden mit Spesenabrechnungen abzahlen... Dazwischen parkt noch einer falsch und einer fährt überhaupt ohne Schein. Und über allem liegt der Mief zweier Ex-Kanzler, von denen einer einen Diktator berät und der andere einen Atomstromkonzern. Die Verfehlungen politiknaher Museumsdirektoren fallen da kaum noch auf. Was bei all diesen Skandalen letztlich rauskommt, haben wir gestern erlebt: Freisprüche im Hypo-Alpe-Adria-Prozess, gar keine Anklage beim Eurofighter-Deal. Beides ist irgendwie eh konsequenter als die Aufhebung der Urteile im BAWAG-Prozess, nach dem die Richterin Justizministerin wurde. Man muss das alles verstehen, die Suppe ist halt oft dünn bei sowas. Nicht jede Ermittlung gegen eine kriminelle Vereinigung kann so akribisch geführt werden, wie die im Tierschützerprozess.

Was einen tollen Politiker ausmacht

Fazit: Österreichs Politik ist ein einziger Filz, in dem es sich viele bequem gemacht haben. Stimmt. Aber der Fisch beginnt am Kopf zu stinken und der Kopf, das ist der Souverän. Ja, ich behaupte: Auch verdammt viele Wählerinnen und Wähler kuscheln sich in diesen Filz ganz gern rein.
Vor einigen Tagen hat mir ein netter junger Mann ungefragt erzählt, dass er noch einen anderen Abgeordneten kennt: "Der ist ein ganz toller Bürgermeister!" Auf meine Frage nach dem Warum lautete die Antwort ohne Genierer: "Der hat meiner Cousine einen Posten auf der Gemeinde verschafft."
Das macht also einen tollen Politiker aus. Und das Üble ist: Wenn Sie verstehen, was daran falsch ist, gehören Sie zu einer Minderheit in Österreich.

"Die Partei" als Arbeitsvermittlung

Wir wissen es doch alle: Kaum ein Job in einer Gemeinde oder einer Landesregierung, bei einem Energieversorger, einer Sozialversicherung, einem Wasser- oder Abwasser- oder Müllverband oder im Straßenbau wird ohne politische Intervention vergeben. Und „kaum" ist eine bewusst freundliche Formulierung, denn es gilt natürlich die Unschuldsvermutung. Hunderte Menschen bekommen so jeden Monat ihren Arbeitsplatz und das ist gesellschaftlich akzeptiert. Nicht nur das: Viele Menschen scheinen sehr froh über dieses System zu sein - es beruhigt, wenn der Job wackelt und der Onkel im Gemeinderat verspricht, dass er sich im Notfall schon darum kümmern wird. Wenn das local network zählt, statt der Qualifikation. Dann ist der Filz bequem. Klar, ich rede hier von Jobs, die manchmal nur ein paar hundert Euro netto im Monat bringen. Aber der Unterschied zu den eingangs genannten Packeleien ist nur quantitativ, nicht qualitativ. Auch hier gibt es Opfer, nämlich diejenigen, die bei einer fairen Besetzung zum Zug gekommen wären.

Klare Ansagen

Die Einflussnahme betrifft nicht nur Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor: Im letzten Wahlkampf habe ich mich mit einem Kleinunternehmer unterhalten, einem Installateur. "Bist eh ein klasser Bursch", hat er gesagt, "aber wählen werde ich dich nicht, weil du kannst für mich nichts tun. Der Bürgermeister hat mir den Auftrag beim neuen Kindergarten gegeben. Und wer für mich was tut, der kriegt auch meine Stimme." Eine klare Ansage, da kannst du mit Energiewende und Bildungsreform einpacken.
Das Volumen an öffentlichen Auftragsvergaben, das Politiker verteilen, um ihre Netzwerke zu bedienen, ist enorm. Diese Netzwerke, die sich in Österreichs Gemeinden, Bezirken und Bundesländern Aufträge zukommen lassen, sind keine ominösen nadelstreiftragenden Lobbyisten. Es sind Durchschnittsmenschen. Und es sind auch Wählerinnen und Wähler, die jetzt darüber schimpfen, wie korrupt "die Politik" ist und keine Sekunde daran denken, dass sie auf niedrigem Niveau mitspielen.

Feudalismus für ein paar Euro

Den wohl banalsten denkbaren Fall habe ich vor ein paar Wochen erlebt, als mich jemand anruft und um eine Pokalspende für ein Fußballturnier bittet. Ich kann nicht an dem Wochenende. "Macht nichts", sagt der Mann, "ich schicke dir den Erlagschein und du kannst das auf dein Spesenkonto setzen, das machen die anderen auch so." Ist ja eh nur Steuergeld, das die Landtagsabgeordneten da nach Fürstenart unters Volk streuen. Und statt sich darüber aufzuregen, nimmt man die fünzig oder hundert Euro gerne: Österreichs Seele wurde nie entfeudalisiert.

Zwei Möglichkeiten

Dieses neue Feudalsystem wurde von SPÖ und ÖVP geschaffen. Für andere Parteien gibt es zwei Möglichkeiten, damit umzugehen. Entweder man spielt mit. Offensichtlich ermöglicht das rasantes Wachstum. Man kommt zu Geld und zu Funktionären, die was werden wollen. Freiheitliche und BZÖ haben uns gezeigt, wie das geht und meist sind sie in diesem Spiel noch ungenierter als die alten Großparteien.
Oder man verweigert sich. Dann gibt's kein Geld und die Leute überlegen es sich drei Mal, bevor sie zu dir kommen. Denn: Sie bekommen dann von politiknaher Seite keine Jobs und keine Aufträge mehr, haben also konkrete persönliche Nachteile. Sie wählen dich vielleicht, aber sie sagen es niemandem.

Nennt das Kind beim Namen: Korruption

So ist die Situation, vor allem im ländlichen Raum. Aber so muss sie nicht bleiben. Wie bei allen großen Problemen kann man auch hier im Kleinen anfangen, daran zu arbeiten. Man muss nicht auf Korruptionsrichtlinien, Transparenzoffensiven und Politikerverhaltenskodizes warten, sondern kann selbst den Finger auf die Wunde legen. Jedes Mal wenn jemand wie selbstverständlich fallen lässt, wer schon wieder wo einen Posten oder einen Auftrag zugeschanzt bekommen hat, kann man das Kind beim Namen nennen: Korruption. Und bitte nicht halbherzig "Freunderlwirtschaft" dazu sagen. Ja, das wird viel Unverständnis auslösen, weil es völlig unserer Kultur widerspricht. Korrupt, das sind die anderen, die im Osten oder die in Brüssel, doch nicht wir hier.
Aber Ernst Strasser hat seine Methoden nicht in Brüssel gelernt, sondern in Niederösterreich. Als er hoch gestiegen ist, hat er nur seinen Preis angepasst.
Wir müssen hier beginnen, dieses System auszutrocknen. Der Filz muss hart und rau und unbequem werden - aber für alle. (Michel Reimon, derStandard.at, 30.3.2011)