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"Als ich Bob Dylan kennenlernte, war er bereits ein alter Mann": Dylan bei seinem Konzert in Schanghai 2011.

Foto: Imaginechina /Corbis

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Christian Schachinger arbeitet in der Kulturredaktion von DER STANDARD. Er wurde kurz nach dem Erscheinen von "The Times They Are A-Changing" geboren und lebt mit seiner Familie und zwei Kisten Bob-Dylan-CDs in Wien und im Waldviertel.

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Gertraud

Als ich Bob Dylan kennenlernte, war er bereits ein alter Mann. In der Schallplattenabteilung des örtlichen Hartlauers standen zwar einige Alben von ihm herum. Neil Young oder die Sex Pistols aber und andere ganz und gar nicht zusammenpassende Platten von Sigi Maron, Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Ideal oder Georg Danzer waren damals für 300 Schilling Taschengeld, mit dem sich eine Platte pro Monat ausging und zwei nicht, offensichtlich interessanter und wichtiger.

Weil es in der Welt laut Radio zwar so viel Musik, für das Geld aber so wenig Platten gab, hörten mein bester Freund Peter und ich damals in der Not zwischen Postpunk und New Wave in der Sendung Zündfunk des Zweiten Bayerischen Rundfunks und Deep Purple freitagabends auf Ö3 aus der Not heraus daheim bei Peter gern auch die krähenden Gesänge eines großnasigen dürren Mannes mit Feuer-auf-der-Prärie-Frisur. Er war früher einmal, etwa vor einem Jahrzehnt, in den längst als goldene Zeit verklärten Sixties, offensichtlich eine große Nummer gewesen.

Wir ahnten damals lange vor dem Internet und den finanziellen Mitteln, Musikzeitschriften kaufen zu können, eines nicht: Während wir unter dem toleranten Motto "Hauptsache, Musik" die frühen Folk-Sachen Dylans aus der Plattensammlung von Peters älterer Hippieschwester hörten, war der von ihr mild geschätzte Katzenmusiksänger zu diesem Zeitpunkt längst in seiner wirren christlichen Phase angelangt. Bei aktuellen, von Kritik und Publikum entsetzt aufgenommenen Livekonzerten in den USA predigte Bob Dylan zwischen einzelnen Songs bis zu eine Stunde lang über die Sünde der Homosexualität, die unbefleckte Empfängnis, das ewige Feuer der Verdammnis - und andere totale Bringer für sein traditionell liberales Publikum. Wer es nicht glaubt: Saved! The Gospel Speeches of Bob Dylan ist in Buchform antiquarisch nicht ganz wohlfeil erhältlich.

Hätten wir damals geahnt, dass Bob Dylan just zu dieser Zeit auf Slow Train Coming den Gottseidankdemherrn besang, wir hätten uns wahrscheinlich öfter freiwillig Platten von Dylans ehemaliger Lebensgefährtin und Mentorin Joan Baez zugemutet, anstatt Krähenmann bei der Erfindung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zuzuhören. Gertraud liebte die zumindest nicht zum Herrn Jesus betende sirenenhafte Engelsstimme der Baez ohnegleichen. Sie hatte sie auf irgendeinem deutschen Henna-und-Moschusduft-Festival drüben in Deutschland live gesehen, war ihr nun rettungslos verfallen und musste alles von ihr haben, was sich kriegen ließ. Selbst die Musik ihres treulosen Ex-Lovers musste dazu herhalten, um "der Joan" nahe zu sein.

Es war eine kranke Zeit. Während Peter und ich unfreiwillig komisch Baez und Dylan hörten und litten, waren wir gleichzeitig im Rahmen unserer ersten eigenen musikalischen Gehversuche wie auch von den streng rasierten Militanzakzeptanz-Frisuren her, die vor allem den Omas und Opas so richtig taugten, im sogenannten Postpunk angekommen. Wir wussten das bloß nicht. Und wir hatten auch den eigentlichen Punk nicht mitgemacht.

Immerhin sollten von den Vätern abgetragene schwarze Anzüge und Seitenscheitel darauf hinweisen, dass Joan Baez als Soundtrack für moderne junge Herren, die Lieder wie Muschi unterm Christbaum komponierten, eher nicht in Betracht kommen würde. Die Provinz aber hat immer schon Monster geboren. Und eine kleinstädtische Jugend evoziert Missverständnisse wie New Waver, die übelste Hippiemusik hören.

Andreas

Slow Train Coming kam dann doch noch zu Peter und mir. Während wir beschlossen, unsere erste richtige Band Tarzan lebt! zu nennen und wir im Bayerischen Rundfunk Umgreif-Punks wie die dem Jazzrock nicht abgeneigten Dead Kennedys mit ihrer später in der Ramschkiste des Kaufhauses Forum für zwölf Schilling als Vinylsingle gekauften Hymne Too Drunk To Fuck mitschnitten und darauf hofften, dass der Moderator nicht hineinmatschkerte, beschloss ein anderer Peter, der ältere Bruder unseres Schulkollegen Andreas, nach der Matura, mit 18 Jahren endlich erwachsen zu werden. Fortan sollten aus seinem Mund keinerlei Banalitäten unterhalb des Niveaus eines Martin Heidegger mehr tönen - und aus den Boxen seiner Stereo-Kompaktanlage nicht länger banale Popmusik. Es musste mindestens Om von John Coltrane sein, irgendein Kuschelrequiem von Beethoven oder das Spiral für Blockflöte und Kurzwellen von Karlheinz Stockhausen. So gesehen handelte es sich bei seiner Kopie von Slow Train Coming, die wir nun huldvoll als unreifen Müll überantwortet bekamen, tatsächlich um banalstes Unterhaltungswischiwaschi.

Der zu dieser Zeit bereits daheim in Australien als Brülltier der Bands Boys Next Door und The Birthday Party umgehende Sänger Nick Cave meinte Jahrzehnte später in einem Interview auf die Frage nach seinem liebsten Bob-Dylan-Album, dass dies ohne Zweifel Slow Train Coming sei. Als Grund gab er an, dass es sich bei dieser mit Liedern wie Gotta Serve Somebody oder Man Gave Names To All The Animals sowie einem grauenhaft gezeichneten Cover mit christlichen Motiven längst berüchtigten Songsammlung um ein sehr, sehr katholisches und daher sehr, sehr krankes Album handeln würde. Das würde so einem Fürsten der Dunkelheit wie ihm, der Elvis ja auch erst lieben lernte, als dieser in Las Vegas regelmäßig in Speiseeiskübeln auf Tauchgang ging, natürlich ungemein gut einfahren. Außerdem sei er selbst ja auch mit dem Knallen der alttestamentarischen Peitsche und dem Klappen des Bibeldeckels aufgewachsen. Und überhaupt: Amen.

Peter und ich hörten damals bei Slow Train Coming weniger auf die tatsächlich durch den Wind geblasenen christlichen Frohbotschaften. Wir waren eher entsetzt von Mark Knopflers bereits von den laschen Londoner Wirtshausrockern Dire Straits gefürchteter, mit abgebissenem Daumennagel statt mit Plektrum gezupfter Leadgitarre. Knopflers an der Gitarrenhandhabung des US-Wüstenfuchses J. J. Cale geschulter Personalstil war von einer endlosen Suada perlender Tonleiterklettereien und Füllsel auf einer Fender-Stratocaster gekennzeichnet, die mir meine über mühsame Ferienjobs erworbene eigene Stratocaster-Kopie beinahe verleidete. Auch Dylan spielte und spielt übrigens gern so wie Mark Knopfler eine Stratocaster. Schrecklich. Peter setzte wenigstens auf den Nachbau einer Les Paul Custom. Noch heute nagt der Neid.

Wo wir gerade dabei sind: Der Bob Dylan gern covernde Jimi Hendrix, man erinnere sich nur an seine herrliche Deutung von All Along The Watchtower, spielte auch Fender Stratocaster. Eine unliebsame Tatsache, die die ursprünglichen Pläne des US-amerikanischen Gitarrenbauers Fender damals vereitelte, dem eigentlich flotteren Modell Jaguar den kommerziellen Vorzug zu geben.

Aufgrund des Welterfolgs des Jimi Hendrix war die Jaguar dann bald Geschichte. 20 Jahre später konnte sie ein Kurt Cobain sozusagen für einen Apfel und ein Ei nachgeschmissen in Secondhand-Caritas-Lagern erwerben und damit den Grunge-Rock erfinden. Aber das ist eine andere Geschichte, die uns Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre nicht vor Slow Train Coming bewahrte.

Zu Slow Train Coming dazu bekamen wir von Andreas' Bruder, also Peter II., als Malus übrigens Aqualung von Jethro Tull geschenkt. Ein anderes "legendäres" Album der 1970er-Jahre, das der erwähnte Nick Cave ebenfalls zu seinen liebsten Musiken zählt. Querflöte und das Riff von Locomotive Breath sollten übrigens international geächtet werden. Sie haben der Welt und nicht der Dummheit, gegen die es im Rock 'n' Roll eigentlich gehen sollte, großen Schaden zugefügt. Verwendete Dylan übrigens je in seinen Liedern eine Querflöte? Seine ebenfalls nicht unirre Renaldo & Clara-Phase, in der er sich als Schwarzer schminkte, der sich als Weißer verkleidet und sozusagen als umgekehrter Unterhaltungsneger bei gottlosen Minstrel-Shows auftritt, lässt dies befürchten. Aber prüfen wir das lieber nicht nach. Das Leben ist zu kurz, um Querflöten auch nur ansatzweise zu ertragen. Das auf diese Phase folgende Scheidungsalbum Desire von Dylan ist übrigens wirklich gut.

Egon

Gitarrespielen, oder zumindest jene Akkordkenntnisse, mit denen man bei Außenstehenden als Gitarrist durchgeht, lernte ich schon Mitte der 1970er-Jahre bei den Pfadfindern. Neben dem einschlägig bekannten und noch immer frei erhältlichen Gitarrenbuch Vol. 1 & 2 des langhaarigen deutschen Schnauzbarts Peter Bursch war dort Pfadfinderführer Egon der Mann, dem ich diesbezüglich alles, also die von Wind, Wetter und Geisteszuständen unabhängige Handhabung des Lieds Blowin' In The Wind und seiner Akkorde, verdanke. Beide, Peter Bursch und Egon, bevorzugten dafür die klassische, für beinahe jedes Lied anwendbare Akkordfolge A - D - E. Es wäre natürlich auch mit C - F - G gegangen. Aber F ist für kleine Bubenhände ziemlich brutal.

Im sogenannten "Führerzelt" und an diversen nächtlichen Feinstaubfeuern wurde während Zeltlagern also eifrig am Lagerfeuer-Diplom gearbeitet und mit großer Ausdauer Bob Dylans Frühwerk unter besonderer Berücksichtigung von Blowin' In The Wind gesichtet. Wir konnten das damals nicht wissen, aber Dylan adaptierte dafür den alten "Negro Spiritual" No More Auction Block, der über der bekannt getragenen, feierlichen Melodie das Ende der Sklaverei herbeisehnt. Das ist deshalb interessant, weil Bob Dylan bei der Amtseinführungszeremonie Barack Obamas vor dem Weißen Haus ausgerechnet Blowin' In The Wind auspackte, was als subtile Anspielung auf den Originalsong durchaus durchgeht. Man fragte sich als Zuseher aber trotzdem: Warum nur?

Bei den Pfadfindern wurde neben Blowin' In The Wind oder Lady In Black von den heute zu Recht vergessenen britischen Soft-Hard-Rockern Uriah Heep, dem Nackerten im Hawelka von Georg Danzer, Sigi Marons Ballade von aner hoartn Wochn (mit dem juvenilen Refrain: "Geht's scheissn!") und Dylans bierzelttauglichem The Mighty Quinn vor allem eines durchexerziert: Dylans Knockin' On Heaven's Door.

Die Frage, von wem denn diese letztgenannte, stundenlang in Endlosschleife in abgesäbelten Jeans, in vor Dreck starrenden T-Shirts und in damals topmodischen Michel-aus-Lönneberga-Holzschuhen interpretierte Nummer stammen würde, die man nicht mehr aus dem Kopf bekam, weil sie ja dauernd in diesen hineingefeuert wurde, beantwortete der aus seiner meditativen Umkreisung eines einfachen musikalischen Stoffes gerissene Egon stets mit einem genervten: "Na, vom Düll'n halt."

Düll'n macht es einem schwer. Kein Wunder, dass man da schon lange vor Google nicht weiter nachforschen wollte.

Rudi

Während des Studiums brachte Mitbewohner Rudi einmal eine Maxisingle der schwedischen Band The Leather Nun nach Hause. Der darauf enthaltene Song Desolation Avenue aus 1985 bezog sich laut fachkundiger Auskunft im Musiklokal unseres Vertrauens eindeutig auf Dylans ohne unser Wissen längst als Klassiker gehandelten Song Desolation Row, den er exakt 20 Jahre zuvor auf seinem offenbar ebenso legendären wie uns unbekannten Album Highway 61 Revisited veröffentlicht hatte.

Beide jeweils über elf Minuten dauernde Songs umkreisen mit surrealen Bildern und Metaphern das "urbane Chaos", in dem wir alle leben. Beide verweisen eindeutig auch auf das Rotlichtmilieu, wobei The Leather Nun als gestandene schwule schwedische Mopedrocker im Gegensatz zu Dylan die wuchtigen Rock-Akkorde tiefer legen und eher das Sexuelle betonen, als sich in biblischen Vergleichen zu ergehen. Was bei Dylan durchaus auch als lapidare Beschwerde über das Leben im gottverlassenen Babylon durchgehen mag, wird bei The Leather Nun vom süßen und kokett dargebrachten Schmerz der Verzweiflung und drogistischer Hilfestellung getragen. Beide Nummern sind aus heutiger Sicht noch immer toll. Wobei Rudi und ich damals als frisch in die Großstadt gezogene Landeier nicht so recht wussten, was denn am urbanen Chaos, der bösen Anonymität, der Endzeitstimmung und dem Rotlicht so schlimm sein sollte. Hallo, da ist mehr los als auf dem Dorf. Und Dorf konnten und kannten wir mit Anfang 20 ziemlich gut.

Robert

Bob Dylan und sein Gesamtwerk traten dann relativ spät in mein Leben. Erst 1997 hatte man anlässlich des Erscheinens seines großartigen Alterswerks Time Out Of Mind nicht nur selbst einen biografischen Punkt erreicht, den Dylan selbst bereits hinter sich gebracht hatte, als er seine christliche Phase mit Slow Train Coming einleitete. Nennen wir es eine Midlife-Crisis, die nicht länger warten wollte, obwohl noch jede Menge Zeit dafür gewesen wäre. Die dunklen, düsteren Alterssichtungen des damals 56-jährigen, allen voran der auf ein erlebnisgesättigtes Leben zurückblickende und nach vorn ins Schwarze sehende Jahrhundertsong Not Dark Yet, brachten erstmals Hörerfahrungen und Biografie in Deckungsgleiche. Allerdings brachte der Erwerb all seiner Alben und die pflichtschuldige Lektüre grundlegender Arbeiten über Dylan, etwa diverser Bücher von Greil Marcus wie Invisible Republic oder zuletzt ganz aktuell Sean Wilentz' Bob Dylan in America oder Klaus Theweleits How Does It Feel: Das Bob-Dylan-Lesebuch, letztlich immer nur eine Gewissheit: Es reicht wohl, wenn man sich als gute Bekannte, die sich ewig nur vom Grüßen auf der Straße kennen, nur alle paar Monate über den Weg läuft. Dann freut man sich vor allem über die Texte und den krassen Gesang. Die Musik stand immer schon im Hintergrund. Dylan ist immer dann am besten, wenn er selbst nicht mag und man ihm das auch anhört. Der Rest, Textexegese, interpretatorische Feinheiten, Vergleiche von Demo- und Studiofassungen etc., dient der intellektuellen Freizeitbeschäftigung von Männern aus meinem heutigen Bekanntenkreis, die zwar entschieden älter als ich, aber nicht so viel älter sind.

Eine Bitte nur: Ich würde es sehr begrüßen, Blowin' In The Wind und Knockin' On Heaven's Door nicht mehr hören zu müssen. Egal in welcher Version. Ob nun von Egon oder Robert Zimmermann. Ich darf das sagen. Ich habe beide Lieder so oft gespielt, dass ich mir ziemlich sicher bin, sie auch komponiert zu haben.

Slow Train Coming ist, mit historischer Distanz betrachtet, übrigens ein tolles Album. Wer alt wird, der erträgt sogar die Gitarre von Mark Knopfler. Ach ja, Locomotive Breath von Jethro Tull geht immer noch nicht.

Alles Gute zum Geburtstag. "It's not dark yet, but it's getting there." (Christian Schachinger, DER STANDARD/Album, Printausgabe, 14./15.5.2011)