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Schöpfer von "Weitwinkelgedichten": Tomas Tranströmer.

Foto: APA/EPA/JESSICA GOW

Stockholm/Wien - Es ist also doch nicht Bob Dylan geworden oder Philip Roth oder der syrische Dichter Adonis. Die literarischen Buchmacher lagen aber heuer insofern nicht ganz falsch, als der 1931 geborene schwedische Lyriker Tomas Tranströmer ganz oben auf ihren Wettzetteln stand. Und obwohl nun wieder einmal ein weißer Mann und Europäer mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wird, dürfte die Entscheidung der Akademie nicht nur Schweden und Lyrikspezialisten freuen.

"Aufwachen ist ein Fallschirmsprung aus dem Traum / Frei von dem angstvollen Wirbel sinkt / der Reisende in die grüne Zone des Morgens" schrieb der damals 23-jährige Tranströmer 1954 im "Präludium" seiner ersten Gedichtsammlung 17 dikter (17 Gedichte). Das Gedicht endet mit einer Frage: "Der Reisende steht unter dem Baum. Wird / nach dem Sturz durch den Wirbel des Todes / ein großes Licht sich entfalten über seinem Haus?"

Nun ist Tomas Tranströmer an den Leinen seines Fallschirms, der aus Worten besteht, in Stockholm, wo er geboren wurde und heute noch lebt, gelandet - und somit endgültig in der Weltliteratur angekommen. Tranströmers Werk ist mit gut elf Lyrikbänden schmal, aber intensiv. "Wo andere hundert Worte machen würden und zehn genügten, da gibt uns Tranströmer ein einziges", konstatierte etwa die FAZ.

Tranströmers Kollege Lars Gustafsson schrieb: "Der Dichter steht sehr deutlich vor mir, wenn ich seine Gedichte lese, anspruchslos, liebenswürdig, intelligent. (...) Tranströmer ist bemerkenswert. Wenn man seine Gedichte sorgfältig liest, entdeckt man, dass sie eigentümlich gleich geblieben sind, von den 50er-Jahren bis heute".

In der Tat ist Tranströmer seinen Weg unbeirrt gegangen - im Ausland lange wenig beachtet. Er folgte ihm auch, als 1990 ein schwerer Schlaganfall zu einer halbseitigen Lähmung und Sprachbehinderung führte, die das Schreiben nahezu verunmöglichte. Er verfasste weiterhin Gedichte, unterstützt von seiner Frau Monica und in Kurz- also Haiku-Form. In deutscher Übersetzung liegen sie im Band Das große Rätsel (Hanser) vor.

Einer subjektiven Weltsicht, die immer wieder den Kampf des Individuums um Freiheit in einer materialistischen Welt thematisiert, ist Tranströmer in seinen bildreichen und raffinierten Versen treu geblieben. Zwar wurde er früh mit Zuschreibungen wie "Präzisionslyriker", der "Weitwinkelgedichte" schreibe, versehen, doch seit seinen Anfängen - und obwohl er sich in den 1970er-Jahren kritisch mit dem Sozialismus, nicht nur in seinem Heimatland, auseinandersetzte, - lag er immer quer zum Zeitgeist.

Nur die Vision zählt

In einem Interview sagte er: "Der Intellekt wird erst hinzugeschaltet, wenn ich damit beginne, aus den Inspirationsfragmenten eine Einheit zu formen. Meine eigentliche intellektuelle Leistung besteht darin, dass ich versuche, die Dinge deutlich zu machen. Ich versuche also, mich in die Lage des Lesers zu versetzen und mir die bis dahin oft noch unbegreiflichen Impulse so zu konkretisieren, dass sie begreiflich werden - auf der Erfahrungsebene auch für den Leser begreiflich werden."

Wahrnehmung, Gefühl, Erfahrung von Realität spielen in den kargen, immer wieder mit überraschenden Metaphern durchwobenen Gedichten eine tragende Rolle. Tranströmer, der sich zuweilen von der sapphischen Ode inspirieren ließ oder Hölderlin zitierte und zahlreiche Naturgedichte schrieb, ist allerdings schwer auf einen Stilnenner zu bringen.

Das Einzige, was zähle, sei die Vision, sagte Tranströmer 1986 im Svenska Dagbladet über diese Eigenständigkeit. In den 1960er-Jahren, Tranströmer hatte Afrika und Nordamerika bereist und einen Zyklus über seine Mittelmeerreisen begonnen, wurden Stimmen laut, Tranströmers Lyrik habe (zu) wenig mit der "Wirklichkeit" zu tun, er betreibe "Kunst um der Kunst willen". Partei ergriff der Dichter auch weiterhin nicht, für keine politische Seite. Seine Positionen bezog er dadurch, dass er immer wieder ihren Missbrauch thematisierte, in der Sprache.

Im Gedicht Mit dem Fluss (1970) schreibt er: "Bei Gesprächen mit Zeitgenossen sah und hörte ich hinter ihren Gesichtern / die Strömung, / die lief und lief und Willige wie Unwillige mit sich zog. / Und das Geschöpf mit verlebten Augen, / das mit dem Strom mitten im Fluss gehen will, / wirft sich geradewegs nach vorn, ohne zu beben, / in einem wütenden Hunger nach Einfachheit."

Gedichte als Gegenwehr

Der 80. Geburtstag des Lyrikers wurde in seiner Heimat, die Tranströmer einmal als aufgedocktes Schiff bezeichnete, dessen Segel gerafft seien , opulent gefeiert. Zeitungen druckten Spezialbeilagen, Liebeserklärungen wurden abgegeben und Aftonbladet nannte Tranströmer den "Poeten, den alle lieben".

Gedichte können eine Gegenwehr sein. Auch weil sie, wie es in der Begründung der Nobelpreisjury heißt, "in komprimierten, erhellenden Bildern neue Wege zum Wirklichen" weisen.  (Stefan Gmünder / DER STANDARD, Printausgabe, 7.10.2011)