Finanzmathematiker Schachermayer erklärt, was die ökonomische Logik gebietet, aber viele Politiker nicht wahrhaben wollen: Schulden und Guthaben sind "siamesische Zwillinge".

Foto: Standard/Corn

Wir haben uns inzwischen an die täglichen Schreckensbotschaften über explodierende Staatsschulden gewöhnt, sie sind aus den Nachrichtensendungen kaum mehr wegzudenken. In der politischen Debatte dazu herrscht in einem Punkt große Einigkeit: Die Staatsschulden dürfen nicht weiterwachsen, sondern müssen gesenkt werden. Wir erleben ja tagtäglich, in welche Krisenanfälligkeit uns diese Schulden geführt haben. Abgesehen von den rezenten Krisenerscheinungen spricht aber auch der Umverteilungseffekt gegen ein Ausufern der Staatsschulden: Die Zinszahlungen führen langfristig zu einer immer stärkeren Belastung der breiten Masse der Steuerzahler zugunsten der Inhaber von Staatspapieren, also tendenziell zu einer Umverteilung von unten nach oben.

So weit, so bekannt. Es ist aber wichtig, diesem Befund das folgende logische Faktum hinzuzufügen: Die Summe der Schulden ist stets ident mit der Summe der Guthaben. Darauf weisen Ökonomen zwar immer wieder hin, doch wird ihnen offenbar wenig Gehör geschenkt. Dabei muss man über keine ausgeprägten mathematischen Fähigkeiten verfügen, um zu sehen, dass jedem Euro Schulden irgendwo ein Euro Guthaben gegenüberstehen muss. Der Mathematiker Erhard Glötzl (vgl. Standard, 14. 12.) wird nicht müde, diesen tautologischen Zusammenhang zu betonen.

Nehmen wir einmal an, es gelingt tatsächlich, durch entsprechende Maßnahmen die Staatsschulden substanziell zu reduzieren, und überlegen wir uns, was dadurch auf der Seite der Guthaben passiert. Die Eigner der zurückgezahlten Staatspapiere haben nun die Wahl, ihr Geld anderen Schuldnern zu leihen oder es zu konsumieren. Man könnte auch einwenden, dass ein Investor ja die Möglichkeit hat, in Sachwerte zu investieren, was offenbar zurzeit sehr beliebt ist.

Vermögensbesteuerung ...

Individuell mag das stimmen, aber für die Gesamtheit gilt es nicht: Jedem, der seine Ersparnisse dazu verwendet, eine Eigentumswohnung zu kaufen, steht ein Verkäufer gegenüber, der den Kaufpreis lukriert und seinerseits dieses Geld wieder zur Verfügung hat. - Welche Möglichkeiten haben also nun Gläubiger, das Geld anstatt den Staaten anderen Schuldnern zu leihen? Grundsätzlich kommen dafür die Unternehmungen und die privaten Haushalte infrage. Beide Sektoren haben aber mit ähnlichen Verschuldungsproblemen zu kämpfen wie die Staatshaushalte und können und sollen sich daher nicht noch weiter verschulden, ganz im Gegenteil. Die Subprime-Krise, die auf einer massiven Verschuldung armutsgefährdeter US-Haushalte beruht, ist übrigens noch keineswegs ausgestanden.

Dann bliebe noch die Möglichkeit transnationaler Veranlagung. Ein Land kann durchaus per Saldo mehr Geldvermögen im Ausland anlegen als es umgekehrt Schulden aus dem Ausland aufnimmt. Aber auch hier gilt der Trugschluss der Verallgemeinerung. In Summe sind die transnationalen Schulden wieder gleich den transnationalen Guthaben.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Summe der Schulden ist insgesamt zu hoch und muss reduziert werden. Mit anderen Worten: Die Summe der Guthaben ist insgesamt zu hoch und muss reduziert werden. Bedauerlicherweise wird aber in der laufenden Debatte fast ständig nur der erste Satz wiederholt und akklamiert, obwohl beide Aussagen nach den Gesetzen der Logik (siehe oben) ident sind.

... darf kein Tabu sein

Das Problem, dass Schulden- beziehungsweise Guthabenberge zu groß geworden sind, ist naturgemäß nicht neu. Seit erdenklichen Zeiten werden mehr oder weniger brachiale Methoden angewandt, um ausgeuferte Schulden und Guthaben zu reduzieren.

Wobei die Handlungsoptionen klar auf dem auf dem Tisch liegen: Entwertung der Forderungen durch Inflation, Reduktion der Schulden durch "hair cuts" oder Reduktion der Vermögen durch Besteuerung. Durchwegs sehr bittere Pillen. In Österreich haben wir in den 1920er- und 1930er-Jahren erleben müssen, welch verheerende Wirkungen eine Hyperinflation haben kann, die letztlich nicht nur ins ökonomische, sondern auch ins politische Desaster führte. Auch die im Fall von insolventen privaten Schuldnern so beliebte Methode des "hair cuts" birgt im Fall von Staatspleiten enorme ökonomische und politische Gefahren.

Der geordnetste und noch am ehesten mit Maß und Ziel beschreitbare Weg scheint eine kräftige Vermögensbesteuerung, mit dem Ziel, die Summe der Finanz-Vermögen zu verringern. Das ist zumindest in der Geschichte schon einmal mit Erfolg praktiziert worden. Als F. D. Roosevelt seinen "new deal" proklamierte, waren die USA ökonomisch in einer katastrophalen Situation. Neben zahlreichen anderen Maßnahmen setzte die Roosevelt-Administration eine drastische Anhebung der vermögensbezogenen Steuern durch, wobei die Erbschaftssteuer eine wesentliche Rolle spielte. Der Spitzenerbschaftssteuersatz stieg von 20 auf 45, dann auf 60, später auf 70 und schließlich auf 77 Prozent! Dies bereitete nicht nur den Weg der wirtschaftlichen Erholung vor, sondern führte auch bis in die Siebzigerjahre zu einer wesentlich egalitäreren US-Gesellschaft.

Der "new deal" war erfolgreich, weil er mutig eine breite Palette von Innovationen durchsetzte. Ein zentraler Bestandteil war die Reduktion der großen Vermögen durch eine aus heutiger Sicht kaum vorstellbare Höhe der Spitzenbesteuerung.

Auch heute brauchen wir einen klugen Mix von entschlossenen Schritten. Es wäre jedenfalls fatal, eine stärkere Besteuerung von Vermögen zu tabuisieren. (Walter Schachermayer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 17.12.2011)