Hört man das Wort Entwicklungs-, denkt man fast unweigerlich an den Zusatz -hilfe und diese Bilder: Afrika, Hunger, Flüchtlinge, Slums, Krieg, Folter, Tod. Es folgen Gedanken an Notgroschen und Überlebenspakete. An Geben, um das schlechte Gewissen zu befriedigen. Hauptsache, die unangenehmen Bilder verschwinden wieder.

Genau deshalb wird beim Verein ipsum bewusst von Zusammenarbeit und nicht von Hilfe gesprochen. "Denn was würde passieren, wenn Menschen, denen es verwehrt ist, die Medienlandschaft aktiv mitzugestalten, die Möglichkeit erhielten, sich zum Ausdruck zu bringen?", fragt ipsum-Geschäftsführerin Vera Brandner. Daher wähle man stets Regionen aus, die immer wieder im Zentrum medialer Bildberichterstattung stehen, und wolle jenen Menschen eine Plattform geben, "die sich aus verschiedenen Gründen – finanziell, politisch, religiös, gesellschaftlich bedingt – nicht mitteilen können", so Brandner.

Was sehen Sie auf diesem Bild aus Cacuaco in Angola? Armut oder Alltagsleben? Foto: Valentim C Constanci
Foto: Valentim-C-Constanci

Seit mittlerweile neun Jahren werden diese individuellen Abbildungen auf ipsum.at und bei diversen Ausstellungen und Aktionen im öffentlichen Raum präsentiert. "Natürlich waren wir am Anfang noch recht naiv, was wir nicht alles bewirken könnten", bekennt der zweite Geschäftsführer Erik Hörtnagl über den Start der Initiative. Also über jene Zeit, als eine kleine Gruppe von KünstlerInnen, PädagogInnen, SozialarbeiterInnen und WissenschaftlerInnen begann, sich ehrenamtlich für einen bewussten und fairen Umgang mit Bildern zu engagieren.

Doch schon 2003 wurde ein Projekt im damals vom Bürgerkrieg schwer gezeichneten Angola realisiert. 21 SchülerInnen zwischen 15 und 22 Jahren nahmen an dem mehrwöchigen Programm in Cacuaco teil. Mittlerweile hat ipsum auch in Pakistan, Afghanistan, Israel und Palästina nicht nur visuelle Fußspuren hinterlassen.


ipsum-Fotograf Majdi AlQam aus Palästina hat ein Faible für bemalte Mauern. Foto: Majdi AlQam
Foto: Majdi AlQam

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt das Beispiel des Geschwisterpaars Nasreen und Majdi AlQam aus dem Jahr 2009. Die beiden leben gemeinsam mit ihren Eltern, der Großmutter und einem weiteren Bruder in einem kleinen Haus in Ramallah in Palästina. Nasreen ist gehörlos, eines ihrer wichtigsten Betätigungsfelder im Alltag ist das Malen. Ihre Teilnahme am Projekt war möglich, weil ihr Bruder Majdi ebenfalls mit dabei war und die Workshop-Inhalte für sie in die Gebärdensprache übersetzte.

Nasreen fotografierte unter anderem eines der großen Flüchtlingslager in Ramallah, die nach der sogenannten "Nakba" im Jahr 1948 entstanden waren. Inzwischen lebt bereits die dritte und vierte Generation in diesen Flüchtlingslagern, die eigene Stadtteile bilden. Die Bezeichnung "Flüchtlingslager" wird absichtlich beibehalten, um täglich daran zu erinnern, dass die Familien, die hier wohnen, Vertriebene sind.


Mit diesem Bild zeigt Majdis Schwester Nasreen eines der großen Flüchltingslager in Ramallah. Foto: Nasreen AlQam
Foto: Nasreen AlQam

Bei allen Unternehmungen geht es stets um "Perspektivenvielfalt", wie Erik Hörtnagl erklärt: "Wenn man ein paar Wochen in Palästina arbeitet, entwickelt man schnell eine einseitige Sicht der Lage." Daher sei es wichtig, auch die Gegenmeinung kennenzulernen, was ein Jahr später bei einem Workshop im israelischen Haifa passierte. "Ursprünglich wollten wir ein grenzübergreifendes Projekt machen, allerdings war das rein politisch nicht zu bewerkstelligen, weil sich die Entscheidungsträger gegen einen Austausch wehrten", so Hörtnagl. Aber das Schöne an dieser Situation sei gewesen, dass nach anfänglicher Skepsis schon gegenseitiges Interesse daran bestanden habe, was denn die jeweils "andere" Seite so mache.

Bei den Workshops selbst wird im Schnitt rund 60 Stunden mit bis zu 30 TeilnehmerInnen gearbeitet. Nach einer Einführung in die Fotografie durch die Verwendung von Lochkameras steht vor allem die Auseinandersetzung mit Alltagsfotos im Vordergrund. "Innerhalb von Dialoggruppen sollen zentrale Themen im Leben sichtbar gemacht, aber auch die eigenen Vorurteile hinterfragt und aufgezeigt werden", erklärt Vera Brandner das Konzept. Wobei viel Wert darauf gelegt werde, dass nicht eine standardisierte Form als einzige Vorlage diene. "In einem permanenten Abgleich von Selbst- und Fremdwahrnehmung wollen wir einen konstruktiven Umgang mit den Differenzen erreichen", so Brandner.


Diese Graffiti befinden sich in unmittelbarer Nähe des Checkpoints Qalandia zwischen Ramallah und Jerusalem. Foto: Ala'a Ledawieh
Foto: Ala'a Ledawieh

Finanziert werden die Projekte von verschiedenen Förderstellen, die von der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit über das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur bis zur Stadt Wien und KulturKontakt Austria reichen. Alle MitarbeiterInnen sind aber ehrenamtlich tätig, daher finden sich im Team sehr viele Freiberufliche und StudentInnen. "Das Schwierige ist, dass man sich für die direkte Umsetzung oft mehrere Wochen freinehmen muss – da ist die Vor- und Nachbereitung noch gar nicht eingerechnet", erklärt Erik Hörtnagl, der im Brotberuf Lehrer ist.

Da der Verein ipsum auch von den steten Kürzungen der Entwicklungshilfegelder vonseiten der österreichischen Regierung betroffen ist, ist im Moment kein konkretes Projekt in einem der weltweiten Krisen-Hotspots in Planung. "Wir haben uns derzeit mehr auf Schulungen und Trainings spezialisiert und arbeiten verstärkt mit österreichischen Organisationen und Schulen zusammen, um unsere Erfahrungen weiterzugeben", sagt Hörtnagl. "Das Wichtigste bei allen ipsum-Initiativen: die Menschen, ihre Bilder und Geschichten." (mob, derStandard.at, 2.3.2012)