Wolfgang Herrndorf, "Sand". Euro 19,95 / 480 Seiten. Rowohlt Berlin, Berlin 2011

Foto: Rowohlt Berlin

Wolfgang Herrndorf veröffentlichte 2002 mit "In Plüschgewittern" einen Roman, der in den Hochzeiten der deutschen Popliteratur ein wenig aus dieser herausstach, weil er sich während seiner damals obligatorisch werdenden Beschreibungen eines offenbar coolen Berlin ein wenig uncooler als die Konkurrenz gab.

2010 kam der Autor mit "Tschick", seinem wunderbaren, zu Herzen gehenden und komischen Roadmovie durch die bundesdeutsche Realität eines Landes im Osten, abseits der sogenannten kreativen Ballungsräume in jenen Städten, die man vom Flugzeug aus noch mit freiem Auge sehen kann, nicht einmal auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Leider wurde er bei seinem Erscheinen fälschlicherweise als "Jugendroman" verunglimpft, war also nicht preiswürdig, weil Jugend sich ja entweder um Drogensucht, Hautprobleme oder doofe Typen in der Clique sorgen macht, aber sicher nicht um richtige Literatur, den deutschen Wald oder darüber, was man denkt, wenn man an Deutschland in der Nacht denkt.

So viel zum regelmäßig gelesenen Gejammere, dass es in der hochpreisklassigen deutschen Gegenwartsliteratur zwar zu viel Trauerarbeit mit Nazi-Opas und Stasi-Vätern oder philosophische Absturzgespräche in der Trendgastronomie zur Problematik "Rotwein zu Fischgerichten?" gäbe, sich aber viel zu wenige Autoren jenseits der Pflege ihrer Ich-Marke der vielbeschworenen "Realität" der Jetztzeit annäherten. Die gehe uns doch alle an.

Bevor uns dank Vea Kaiser und einer Heerschar in den herrlichen Bergen der Alpen mordender Krimiautoren möglicherweise demnächst auch noch ein Comeback des feist vor Fröhlichkeit dampfenden Heimatromans mit ein wenig Zirbenschnaps auf den Spuren Hansi Hinterseers bevorsteht (nicht vergessen: den Liftbau in den Alpen kritisch aufs Korn nehmen!), ist doch noch ein kleines Wunder geschehen.

Herrndorfs Roman "Sand" gelangte heuer nach dem Erhalt des Leipziger Buchpreises auch auf die Shortlist des deutschen Buchpreises. Das ist künstlerisch ebenso verdient wie einem schlechten Gewissen der Jury geschuldet, die doch irgendwie mitgekriegt zu haben scheint, dass "Tschick" zwar der bessere Roman, "Sand" aber das aktuelle Produkt aus dem Hause Herrndorf ist.

"Sand" erweist sich dabei als Abenteuerroman der etwas anderen Art. Eigentlich ist "Sand" aber ein Thriller, der sich wie ein Agentenroman liest, bei dessen Protagonisten es sich um Menschen handelt, denen bei ständigen bestialischen Kopfschmerzen die Grenzpfeiler zwischen Realität und Einbildung durcheinandergeraten. Diesbezüglich hätte "Sand" eigentlich "Treibsand" benannt werden müssen. Nichts ist sicher. Die heutigen Spuren sind morgen verwischt. Nicht die Karawane, die Dünen sind weitergezogen.

Es geht um das Jahr 1972, um Nordafrika, München, einen drohenden Atomkrieg, die CIA, Geheimdienste und einen Mikrofilm. Menschen sterben, Dinge gehen schief. Ein Mann ohne Gedächtnis taucht aus der Wüste auf.

Er sucht nach einem Elixier, das ihm die Erinnerung zurückbringt. Am Ende in diesem stilistisch souverän aus den Fugen laufenden Spiel mit Realitäten und Identitäten ist eines gewiss: Der Mensch ist nicht gut und nicht schlecht, aber er ist und bleibt dumm.

Vielleicht wird dies der letzte Roman von Wolfgang Herrndorf sein. Er leidet seit einigen Jahren an einem auch in seinem Blog "Arbeit und Struktur" verhandelten Gehirntumor. Man verzeihe diesen Satz: Das Humorzentrum scheint davon nicht betroffen. (Christian Schachinger, Album, DER STANDARD, 6./7.10.2012)