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Reisender Ransmayr: "Ich bin ja in vielem, was ich mache, auch langsamer als andere. Aber ich lebe noch."

Foto: APA/Roland Schlager

STANDARD: Ihr neues Buch ist schon aufgrund der Fülle an Orten beeindruckend, die Sie alle, wie es im Vorwort geschrieben steht, tatsächlich besucht haben. Wie haben sich diese Reisen für Sie zu einem Ganzen gefügt?

Christoph Ransmayr: Das Modell für diesen Atlas ist denkbar einfach: Ein Mensch erzählt in siebzig Episoden von seiner Zeit, den Orten und Schauplätzen seines Lebens, wobei die Quellen seiner Erzählungen ausschließlich in der eigenen Erfahrung liegen. Jede der in sich völlig geschlossenen Atlas-Episoden beginnt ja mit der Formel: "Ich sah". Mein Atlas führt aber nicht nur durch geografische, sondern auch durch innere Räume, Seelenlandschaften, und vor allem: durch die Zeit.

STANDARD: Wie sind Sie an der Grenze zwischen real Erlebtem, Nachrecherchiertem und erzählerisch Fiktivem entlanggegangen?

Ransmayr: Dass alles Material aus meiner Erfahrung stammt, heißt nicht, dass nur von objektiven Tatsachen die Rede ist, sondern davon, wie ich etwas gesehen oder gehört habe. Die wichtigsten Wissensquellen waren für mich immer Menschen, Gespräche. Dabei ist die Gegend, aus der ich komme im Atlas mit mehreren Geschichten, also überproportional, vertreten und wäre auf einer entsprechenden Karte groß wie ein ganzes Land, ein Kontinent. Schließlich ist es für jeden Menschen, der sich auf den Weg macht, unerlässlich, sich darüber im Klaren zu sein, von wo er irgendwann aufgebrochen ist und wohin er in seinen Gedanken oder tatsächlich immer wieder zurückkehrt. Denn ob ich in einem Dorf in Bolivien oder Südindien bin, mein Verständnis für das Zusammenleben von Menschen hat viel mit dem Dorf oder dem Landstrich zu tun, aus dem ich komme.

STANDARD: Wie sammeln und archivieren Sie das, was Sie auf den vielen Reisen erleben?

Ransmayr: Ich kritzle, meist mit Bleistift, in Notizbücher von der Größe einer Brusttasche. Ich notiere nie in Sätzen, immer nur in Fragmenten, Stichworten, Zahlen. Diese Bruchstücke werden dann zu Appellen an mein Erinnerungsvermögen, und ich muss hellwach sein, wenn ich nach Jahren wieder in diesen Notizbüchern lese. Aus ihnen habe ich ursprünglich fast 200 Geschichten für den Atlas rekonstruiert, mich bei der Auswahl der Episoden aber nicht von Kriterien, wie etwa dass sämtliche Kontinente und Kulturräume vorkommen müssen, leiten lassen, sondern vom Magnetismus der Geschichten.

STANDARD: Wie sind Sie auf den Titel "Atlas eines ängstlichen Mannes" gekommen? Viele der Episoden haben eher mit Mut zu tun. Schwingt in diesem Titel auch der Respekt mit, vor dem, was unterwegs passieren kann?

Ransmayr: Natürlich. Ängstlichkeit gehört wohl zu den archaischen und ältesten Haltungen, mit denen wir der Welt, unserer sozialen Umwelt wie der Wildnis, entgegentreten. Aber Ängstlichkeit ist ja nicht einfach gleichzusetzen mit der Angst, die lähmt, sondern sie macht einen unter Umständen handlungsfähiger, indem sie bewusst werden lässt, was einem zustoßen könnte oder in ähnlichen Situationen bereits geschehen ist. Der Ängstliche ist auf der Hut, zögert, hält inne, wenn ein anderer schon weitergeht. Deswegen bin ich ja in vielem, was ich mache, auch langsamer als andere. Aber ich lebe noch.

STANDARD: In vielen Geschichten geht es um das Sterben und den Tod. Bringt einen das Reisen näher an seine Endlichkeit?

Ransmayr: Absolut. Wer die Betäubungs- und Blendungsrituale unserer Gesellschaften hinter sich lässt, ihren Gesundheits- und Jungbrunnenwahn, wird mit den Tatsachen des Lebens und des Todes konfrontiert. Natürlich muss man dafür keine Weltreise unternehmen, Reisen ist grundsätzlich keine Frage der Entfernung. Das Existenzielle, auch das Fremde lässt sich auch in allernächster Nachbarschaft erfahren, aber dazu muss man ausgetretenen Pfade verlassen. Schon im benachbarten Stadtteil ist man unter Umständen plötzlich in einer rätselhaften Kultur und hat keine Ahnung mehr, wovon die Menschen sprechen. Wer heute in die sogenannte Dritte Welt reist, ist entsetzt oder erschüttert vor allem über jene Tatsachen des Lebens, die bei uns nicht einfach verschwunden, sondern bloß unsichtbar geworden sind.

STANDARD: Wo haben Sie sich dem Tod schon nahe gefüllt?

Ransmayr: Augustinus hat davon geschrieben, dass man dem Tod am nächsten ist, wenn ein geliebter Mensch stirbt. Ich habe in Indien, in Indonesien, in Sri Lanka - und in meiner Kindheit auch in meinem Heimatdorf - Menschen sterben sehen und hatte dabei stets das Gefühl, dass ich sein könnte, ich, wer da die Augen schloss. Reisen hat aber auch auf weniger endgültigen Ebenen viel mit Abschieden zu tun. Wer sich auf den Weg macht, lernt, dass "Auf Wiedersehen" oft eine unerfüllbare Hoffnung bleibt. Die meisten Abschiede gelten für immer. Auf den Austausch von Adressen beginnt man irgendwann verzichten, weil man weiß, dass es für viele Begegnungen nur eine bestimmte Zeit und nur einen einzigen Ort gibt.

STANDARD: Aber das Gros der Reisenden sucht heute in der Ferne nicht unbedingt das Fremde und Unbekannte.

Ransmayr: Viele arme Teufel suchen verständlicherweise Erleichterung, Trost, Glückskulissen - Projektionsflächen. Es gibt mittlerweile ja ganze Industriezweige, die vom Handel mit Paradiessehnsüchten leben. Wer kann schließlich schon mit der Wahrheit Geschäfte machen? Aber auch, was ich betreibe, ist Tourismus. Auch ich bin einer, der das ungeheure und kostbare Privileg, mobil zu sein, für sich und seine Erzählungen nützt. Für einen Reisbauern am Mekong ist es unvorstellbarer Luxus, in ein Flugzeug zu steigen und zehntausende Kilometer irgendwohin zu fliegen, um dort wieder ausgiebig zu Fuß zu gehen. Es ließen sich hinreichend Argumente anführen, das Flugzeug wegzulassen.

STANDARD: In Ihren "Geständnissen eines Touristen" haben Sie das Gehen zur Königsdisziplin erhoben.

Ransmayr: Es gibt keine Fortbewegung, die dem Denken gemäßer wäre als das Gehen - der allmähliche Wechsel der Perspektive, das Innehalten ... Der Atlas eines ängstlichen Mannes endet mit dem Satz: "Nun war ich angekommen". Diesen geheimnisvollen Moment gibt es auf jeder Reise, dort aber vor allem auf Fußwegen, einen Punkt, an dem sich sagen lässt: Deswegen bin ich hier. Eine seltsame Lichtstimmung, ein Talschluss, eine Straßenszene, können unverhofft zum Kern und Mittelpunkt einer Reise werden, und dieser Punkt kann bereits lange vor dem vermeintlichen Ziel erreicht werden oder erst lange nachher - oder auf manchen Reisen gar nicht.

STANDARD: Gibt es noch Sehnsuchtsorte, die Sie noch nie bereist haben.

Ransmayr: Mein Problem ist eher, dass die Zahl der Sehnsuchtsorte mit jeder Reise größer wird. Ich habe ein Ziel, dann bin ich dort und entdecke, wie weitläufig, vielschichtig oder geheimnisvoll die Nachbarschaft ist und dass es in nächster Umgebung noch mehr Plätze geben müsste, die zu besuchen sich lohnen würde. Dann ist aber beispielsweise meine Zeit abgelaufen, ich muss zurück. Dann habe ich ein Ziel erreicht und komme mit zwanzig neuen nach Hause.

STANDARD: Sie sind nicht nur von irdischen Landschaften fasziniert, sondern auch von den Sternen, das lässt sich auch in der neuen Geschichtensammlung wunderbar nachlesen. Würden Sie auch den Weltraum bereisen wollen?

Ransmayr: Ich bin Sonntagsastronom. Zu den Abermillionen Lichtjahre entfernten Kugelsternhaufen und Galaxiengruppen, die mich interessieren, gibt es keine Fährverbindungen. In einem Raumschiff würde ich kaum etwas von dem erfahren, was ich wissen will. Aus der tatsächlichen Tiefe des Raumes erreichen uns überwältigende Geschichten, die alle vom Licht erzäh-len und nur über Teleskope zugänglich werden. In der visuellen Astronomie geht es darum, Lichtwellen zu entschlüsseln, und das Licht zu lesen heißt, etwas über den Ursprung, das Alter, die elementare Zusammensetzung, die Temperatur, die Entstehungsgeschichte, Geschwindigkeit oder Entfernung von Himmelsobjekten zu erfahren. Ich versuche mir also die ungeheuren Räume, in denen unser Sonnensystem und unsere Heimatgalaxis dahinwirbeln, das Unvorstellbare, vorzustellen. In irgendeiner Raumfähre würde ich erfahren, wie beklemmend eng es in einem solchen Vehikel werden kann. Manchmal ist es wesentlich sinnvoller, zu bleiben, wo man ist und die Außenwelt durch ein Mikroskop oder ein Teleskop zu betrachten, als sich in Fahrzeuge zu zwängen und dabei Erfahrungen mit der Platzangst zu machen. (Mia Eidlhuber, Album, DER STANDARD, 20./21.10.2012)