Seit 20 Jahren legt sich der Grazer Droschl-Verlag ehrgeizig ins Zeug, um Henri Michaux (1899-1984) hierzulande bekanntzumachen. Davon zeugen neun lieferbare Übersetzungen. Und nun ein großartiges Essay Helmut Mayers, eines Redakteurs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Denn sein portabler, im Format einer größeren Westentasche daherkommender, exzellent Korrektur gelesener biegsamer Broschurband ist die derzeit erhellendste und ohne Zweifel hinreißendste Einführung auf Deutsch in den wilden, brüchigen, fragmentarischen, gewaltig ausgreifenden, sprühenden Kosmos des in der belgischen Stadt Namur geborenen und aufgewachsenen und seit 1924 in Paris ansässigen literarischen Außenseiters, Aphoristikers, Dichters, Zeichners, Malers, Komponisten und Experimentators mit bewusstseinserweiternden Drogen wie Meskalin.

Michaux gilt im frankofonen Sprachraum als moderner Klassiker, wenn auch als einer der erratischeren. Von den mehr als 5000 Seiten der dreibändigen Edition seiner Schriften in der Bibliothèque de la Pléiade - wobei er darauf insistierte, dass diese Gesamtausgabe erst nach seinem Tod erscheinen solle, andernfalls würde er sich festgezurrt und anderseits planiert fühlen - liegt vieles noch nicht auf Deutsch vor. Dank Helmut Mayer kann man in sieben pointierten, sprachlich eleganten Kurzkapiteln in Michaux' Sprachtheorie eintauchen, in seine Ansichten vom Traum. Mayer setzt Michaux' entschiedene Ablehnung von Dichtung als Kunstreligion auseinander und analysiert dessen Distanz zum Surrealismus in der von André Breton rigid-orthodoxen Spielart.

Er setzt ebenfalls klug Michaux' biografische Mystifikationen auseinander, dessen berauschte Klarheiten und multiple Inspirationsquellen, darunter etwa die realen Reisen, die Michaux in jüngeren Jahren, von 1919 bis 1921, als Matrose unternahm, ohne aber darüber mehr als nur wenig zu schreiben, und die Fantasiereisen.

Das Phantasmagorische wurde ihm nicht zum ausgreifenden Roman, auch wenn ein solcher sich lange Jahre durch Michaux' Korrespondenz gezogen hatte, bevor ein solches Prosawerk, von dem sich im Nachlass nichts fand, von ihm nicht mehr erwähnt wurde.

Abwehr und Flucht: Dies benennt Mayer als zentrales Motiv von Henri Michaux' Leben wie Werk, war dieser doch zurückgezogen bis zur Scheuheit, ja verweigerte gar die Annahme renommierter Literaturpreise. Man könnte es auch "die krumme Linie" nennen.

In einer Aufzeichnung Michaux', der seinen Biografen Jean-Claude Martin vor derart viele Rätsel über seine "vie sentimentale" stellte, dass Martin eine "Roman-Biografie" fabrizieren musste, heißt es: "Eines Tages, mit zwanzig Jahren, kam ihm eine plötzliche Erleuchtung. Er machte sich endlich ein Bild von seinem Gegen-Leben und kam auf den Einfall, dass man einmal das andere Ende probieren müsse. Die Erde näher kennenzulernen und vom Unbedeutenden Abschied zu nehmen. Er ging fort."

Ab jetzt, nach diesem kleinen großen Buch, ist die Behauptung, Henri Michaux sei ein unverständlicher Autor, haltlos. Alles ist luzid. Und von strahlender Klarheit. (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 20./21.10.2012)