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Im Status des "Geheimtipps": Hermann Ungar.

Foto: Archiv

Auf den ersten Blick erinnert die Eingangsszene des Romans an die vielen Schülergeschichten nach dem Jahr 1900: Fast schon klischeehaft steht da ein Lehrer als Zuchtmeister vor seinen Zöglingen. Dieser Josef Blau ist offenkundig kein Anhänger der damals aufkommenden Reformpädagogik, er bevorzugt den guten alten Frontalunterricht, um jede Unruhe im Klassenzimmer bereits im Keim zu ersticken.

Und doch ist in Hermann Ungars Roman Die Klasse aus dem Jahr 1927, der jetzt dank einer Neuausgabe im Manesse-Verlag wiederzuentdecken ist, vieles anders: Dass im Mittelpunkt ein Lehrer steht, kannten die Leser bereits aus Heinrich Manns Professor Unrat. Neu hingegen war Ungars psychologisch präzise Schilderung der verstörenden Innensicht des Protagonisten.

Zeit gewinnen

Josef Blau ist kein Sadist, sondern ein Diktator aus purer Verzweiflung; vor seinen Schülern hat er mindestens so viel Angst wie sie vor ihm. Dass er aus ärmlichen Verhältnissen stammt, er aber die Sprösslinge der Oberschicht unterrichtet, führt bei dem Pädagogen zu der Zwangsvorstellung, von seinen Schülern eines Tages sozial deklassiert zu werden.

Und dass seine junge Frau Selma gerade hochschwanger ist, lässt ihn befürchten, von seinen pubertierenden Schülern als Triebwesen entlarvt und verspottet zu werden. In seiner von Komplexen und Verfolgungswahn gesteuerten Wahrnehmung wird Josef Blau sich selbst zur Spottfigur, zum " armseligen behaarten Gerüst von Knochen". Für ihn steht fest: Die Revolte seiner Schüler ist längst im Gang, sein drohender Sturz in den Abgrund der Lächerlichkeit unvermeidlich; alles, was er mit seiner Strenge noch erreichen kann, ist Zeit gewinnen.

Wie schon Ungars frühere Werke - der Novellenband Knaben und Mörder und der Roman Die Verstümmelten, der immerhin keinen Geringeren als Thomas Mann zu seinen Bewunderern zählte - provozierte auch Die Klasse selbst bei wohlwollenden Kritikern ambivalente Reaktionen. Oskar Loerke immerhin rang sich zur Prophezeiung durch, der Roman werde als "Dokument unserer Zeit übrigbleiben". Als der mährisch-jüdische Dichter Ungar 1929 in Prag starb, war er gerade einmal 36 Jahre alt. Er hinterließ ein schmales Werk beklemmender Geschichten, das Kafkas Erzählwelt nahesteht. Tatsächlich aber geriet Die Klasse wie auch das übrige Werk Ungars nach seinem frühen Tod bald in Vergessenheit. Bis heute ist der Autor über den Status eines "Geheimtipps" nicht hinausgekommen.

Das unterscheidet den aus dem mährischen Boskovice stammenden Prager Literaten von Franz Kafka. Mit ihm wurde Hermann Ungar schon zu Lebzeiten verglichen, ist doch die Atmosphäre seiner Texte vergleichbar düster und beklemmend, der bizarren Komik einzelner Szenen zum Trotz.

Ungars Protagonisten sind Opfer diffuser Schuld- und Schamgefühle; in einer ausweglos anmutenden Welt kämpfen sie gegen einen über sie verhängten Richterspruch.

Die Sprache von Hermann Ungar besticht durch eine kalte Präzision, die auch den noch so labyrinthischen Gedankenwindungen des Protagonisten mit großer Suggestivkraft folgt - mehr noch als an Franz Kafka erinnert diese Kunst an einen Roman, der erst neun Jahre später erscheinen sollte: Die Blendung des jungen Elias Canetti. "Das Wort, das man sprach, war unwiederbringlich. Es begann seinen Weg. Es machte die Welt anders. Es berief ein Schicksal, das nicht mehr aufzuhalten war. Man konnte ein Wort sprechen oder das andere, man konnte einen Schritt machen nach links, nach rechts, man konnte das Wort, den Schritt nicht zurückrufen, wenn es gesprochen, wenn er getreten war. (...) Wenn man schwieg, nur das Vorhergesehene, das getan werden musste, tat, beschränkte man die Gefahr. Dass man hätte den Atem anhalten können, den Lauf der Dinge nicht durch seinen Hauch zu verwirren! Schuldlos blieb nur das Atemlose."

Dieses Kunststück gelingt Josef Blau natürlich nicht. So macht seine Paranoia den Lehrer blind dafür, dass gerade jener Schüler, den er verdächtigt, der Kopf der Verschwörer zu sein, in Wahrheit seine Hilfe sucht. Und weil Josef Blau in seinem Jugendfreund Modlizki seinen Todfeind vermutet, erkennt er nicht, dass dieser diabolische Diener reicher Herrschaften weniger Blaus Verderben im Sinn hat, als vielmehr das seiner Schutzbefohlenen: Erst werden die Schüler von Modlizki zu unsittlichen Handlungen verführt, dann in den Selbstmord getrieben. Dies alles, weil sich hinter der Maske des gehorsamen Lakaien ein kalter Revolutionär verbirgt, der seinen Herrschaften ihre schützenden Formen wegnehmen will, um die "Massen" an die Macht zu bringen.

Mit Modlizki hat Hermann Ungar die vielleicht unheimlichste Dienerfigur der deutschsprachigen Literatur geschaffen, mit seinem Roman eine meisterhafte Parabel: Im Ringen zwischen dem anarchistischen Lakaien und dem sich an die Ordnung klammernden Lehrer spiegelt sich jene unselige Zwischenkriegszeit wider, die von ihren Terror- und Erlösungswünschen schier zerrissen wurde.   (Oliver Pfohlmann, Album, DER STANDARD, 27./28.10.2012)