"Die Geschichte einer Frau, die unter Stalin ins Lager kommt, ist meine eigene Auseinandersetzung, mein eigenes Nachdenken über Hoffnung, Verrat und Einsamkeit": die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck.

Foto: Peter Peitsch

"Wie viel Zeit lag zwischen der Sekunde, in der ein Kind lebendig war, und der nächsten, in der es nicht mehr lebendig war?", lässt Jenny Erpenbeck in ihrem neuen Roman den Vater des eben gestorbenen Säuglings fragen. Aller Tage Abend ist eine Auseinandersetzung mit Geschichte und Tod. Vom galizischen Ort Brody über Wien und Moskau bis nach Berlin spannt sich der Erzählbogen, der zugleich das 20. Jahrhundert umschließt.

Standard: Ihr neuer Roman "Aller Tage Abend" handelt, wie der Titel anzeigt, vom Tod, genauer: von fünf Toden. Denn Sie lassen Ihre Protagonistin in fünf Lebensabschnitten sterben und erwecken Sie viermal wieder zum Leben. Worin bestand Ihre innere Antriebskraft zu diesem Roman?

Erpenbeck: Der Ausgangspunkt war eine tiefe Trauer, war meine ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Verlust eines mir sehr wichtigen Menschen, den ich durch den Tod verloren habe. Das Nichts ist ja, wenn man genau hinschaut, in jedem Moment des Lebens unser allernächster Nachbar. Ich habe mich gefragt, wie kommt diese Verwandlung zustande von einem ganz normalen Augenblick mitten im Leben in einen sogenannten " letzten Augenblick", in dem jemand das oder das getan hat? Diese Verwandlung macht ja der Tod - der Augenblick selbst aber kann sich nicht verändern im Nachhinein. Oder doch? Es scheint mir so, als ob immer eine zweite Schicht auch anwesend wäre, noch während man lebt. Und wenn jemand stirbt, versuchen die Lebenden dann, auf die oder jene Weise zu beschreiben, wer der Verstorbene war. Und das nennt man dann "Identität".

Standard: Die Schauplätze Ihres Romans reichen vom galizischen Ort Brody zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Wien nach dem Ersten Weltkrieg und Moskau in den Dreißigerjahren bis ins Berlin der Nachwendezeit. Sind das die politischen Brennpunkte des Jahrhunderts?

Erpenbeck: Wenn man beim Privaten anfängt, stellt man irgendwann fest, dass es das eigentlich gar nicht gibt. Auch die Seelenzustände und die Umstände, die zu Toden von Menschen führen, sind nicht zu trennen von der sogenannten großen Geschichte. Als ich das Buch begann, war meine Idee, durch diese fünf Tode, die ich erzähle, immer wieder einen plötzlichen Schnitt durch dasselbe Leben zu machen und die Hauptfigur jedes Mal neu in dem Moment anzuschauen, da der Tod eintritt. So ergibt sich immer wieder eine andere Bewertung derselben Biografie, eine andere Erzählung des Todes über das Leben, und schon ist man mitten in der Geschichte des letzten Jahrhunderts. Einmal beschreibe ich einen Tod im Gefolge des Ersten Weltkriegs, eine unmögliche Liebe inmitten der Erfahrung von Hunger, Krieg und Spanischer Grippe, ein andermal ist es ein politisch motivierter Tod unter Stalin. Wenn man das Leben bewerten will, ist es undenkbar, das zu machen, ohne die allgemeinen Umstände anzuschauen, die für die Menschen zur jeweiligen Zeit existenziell waren.

Standard: Gerade im 20. Jahrhundert waren sie vor allem politischer Natur ...

Erpenbeck: Die waren auf jeden Fall politischer Natur, und sie waren in Europa in ihren Auswirkungen für die Menschen auch sehr extrem. In Wien zum Beispiel wurde während des Ersten Weltkrieges und auch noch danach schrecklich gehungert. Durch diesen Hunger und durch dieses ewige Nichtaufhören des Krieges wurden die Menschen geprägt. Man muss sich vorstellen, dass über Jahre hinweg die Menschen jede Nacht stundenlang um Lebensmittel anstanden. Das wusste ich vor dem Schreiben des Buches nicht - und plötzlich habe ich etwas über diese Zeit begriffen. Die Menschen waren am Ende ihrer Kräfte, es war eine existenzielle Sehnsucht nach Frieden da. Und das einzige Land, das den Frieden aus eigenem Entschluss und unter großen Opfern in die Tat umgesetzt hat, war die Sowjetunion. Das hat viel mit dem Beginn der kommunistischen Bewegung in Österreich zu tun.

Standard: Bereits mit Ihrem Roman "Heimsuchung" haben Sie sich der Geschichte Ihrer Familie zugewandt. Ist dieser Roman erneut eine Annäherung an die kommunistische Vergangenheit Ihrer Familie?

Erpenbeck: Das Umfeld, in dem man eine Geschichte erzählt, ist ein wenig wie eine Maske, hinter der man sich selbst versteckt. Familiengeschichte ist für mich beim Schreiben ebenso Material wie andere Dinge, die ich recherchieren muss. Dass mich zum Beispiel die Zeit der Emigration so interessiert, hat zwar sicher mit meiner Familiengeschichte zu tun, aber die Geschichte einer Frau, die unter Stalin ins Lager kommt, ist nicht die Geschichte meiner Großmutter, sondern meine ureigene Auseinandersetzung, mein ureigenes Nachdenken über Hoffnung, Verrat und Einsamkeit.

Standard: Es geht in dem Roman immer wieder um Mutter, Tochter, Großmutter, Urgroßmutter, aber nur sehr wenig um Väter ...

Erpenbeck: Dass ich die Männer weglasse, hat historische Gründe. Ich erzähle eine Geschichte, in der der Familienvater um 1900 durch ein Pogrom umkommt. Das ist der Ausgangspunkt. Dieses Pogrom steht im Zentrum des ersten Kapitels und ist so etwas wie der Kern des Buches, weil diese Gewalt ganz lange Auswirkungen hat, über mehrere Generationen hinweg. Weil die Gewalt im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich ist, wird sie verschwiegen, wird gelogen. Aber gerade durch dieses Lügen und Verschweigen hindurch pflanzt sich die Vaterlosigkeit fort. Die Väter in meinem Buch bleiben oft fremd innerhalb der Familien, sie leben anderswo oder wandern aus, sie werden umgebracht oder kommen durch Verfolgung abhanden - und die Mütter sind dann mit dem Leben, das oft schwer ist, allein.

Standard: Zu den erschütterndsten Szenen Ihres Romans gehört jene im Berliner Altersheim. Hier sieht sich Ihre Protagonistin nach der Wende dem Zusammenbruch der Ideale, für die sie ihr Leben lang kämpfte, gegenüber. "Wir haben uns vorgenommen, wir werden es alles machen. Und dann ist es so armselig geworden", lassen Sie sie sagen. Empfindet ein solcher Mensch, umsonst gelebt zu haben?

Erpenbeck: Den Kommunisten dieser Generation wurde mit dem Mauerfall klar, dass sie nicht einmal mehr den allerersten Anfang dieser neuen Gesellschaft, die sie immer wollten, erleben werden und dass, wenn die Änderungen überhaupt jemals eintreten, sie viel mehr Zeit brauchen und auf eine ganz andere Art eintreten werden, als es von ihnen gedacht worden war. Diese Menschen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, sie waren mit enormem jugendlichem Mut und großer Hoffnung angetreten, eine neue Gesellschaft ins Werk zu setzen. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten war dieses Werk endgültig gescheitert. Das war natürlich sehr bitter.

Standard: Ist das kommunistische Familienerbe für Sie eine Last?

Erpenbeck: Aber nein. Ich würde sogar sagen, dass ich und einige andere Schriftsteller meiner Generation eher aus dem Gefühl eines Mangels heraus angefangen haben, über diese Dinge nachzudenken und zu schreiben, denn wir stecken ja in einer Zeit fest, in der große gesellschaftliche Utopien aus der Mode gekommen sind und alles durch Ironie relativiert wird. Fast könnte man neidisch werden, wenn man sieht, wie unsere eigenen Großeltern so geradlinig daran geglaubt haben, sie könnten die Welt verbessern.

Standard: Glauben Sie, dass die Menschen damals mutiger und lebensfroher waren?

Erpenbeck: Ich habe die Generation dieser Kommunisten, die ja auch in der DDR an der Macht waren, erst kennengelernt, als das alles alte Männer und Frauen waren. Dass sie vierzig, fünfzig Jahre zuvor auch einmal jung gewesen waren und dass ihre Ideen viel mit ihrer eigenen Jugend zu tun hatten, war mir damals nicht bewusst. Und dann, mit dem Fall der Berliner Mauer, sah man plötzlich: Das Jahrhundert ist alt, und diese Kommunisten, wie auch meine Hauptfigur im Buch, sind ebenfalls alt und haben ihre eigenen Hoffnungen überlebt. Das Leben meiner Hauptfigur ist gescheitert, aber es ist auch ein Jahrhundert gescheitert. Und vielleicht ist es erst meiner Generation möglich, einen Schritt zurückzutreten und das im Ganzen anzuschauen, mit der Hoffnung und dem Scheitern.

Standard: Gibt es vor dem Hintergrund der historischen, politischen und intellektuellen Geschehnisse im Leben der Protagonisten eine Lehre für Ihr eigenes Leben?

Erpenbeck: Vielleicht, dass es falsch ist, ein Richtungsdenken zu haben. Ich hatte plötzlich das Gefühl, die letzten Kapitel antworten auf die ersten. Die ersten aber antworten auch schon auf die letzten. Die Dinge stehen komplexer miteinander in Verbindung. Dieses kugelförmige Konstrukt, das ich in dem Buch versucht habe, ist vielleicht der Zustand, in dem meine Generation jetzt befangen ist. Wenn man den Lauf der Geschehnisse anschaut und miterlebt hat, stellt man fest, dass die Aussicht auf Verwirklichung der Absichten von Menschen relativ ist, und zwar immer wieder. Das hat seine Tragik und seine Bitterkeit. Andererseits hat es aber auch sein Gutes, wenn man sieht, dass nichts festzementiert ist und dass immer wieder Ausbrüche oder Ideen aus einer Richtung kommen, die man nicht erwartet.    (Adelbert Reif, Album, DER STANDARD, 10./11.11.2012)