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In seinen Reisetagebüchern schreibt Martin Walser Beobachtungen auf. In einem Zug von Innsbruck nach Friedrichshafen hat er es liegengelassen. Es ist bisher nicht aufgetaucht. "Aber ich glaube noch immer nicht, dass es verloren ist."

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Martin Walser am Bodensee: Sich selbst will er politisch nicht mehr verorten. "Ich verzichte auf Platzanweisungen."

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STANDARD: Sie waren vor kurzem in Österreich und haben im Zug Ihr Tagebuch liegengelassen. Haben Sie es inzwischen zurückbekommen?

Walser: Von Innsbruck nach Friedrichshafen, das war eine meiner schönsten Zugfahrten. Das kommt davon, wenn man in der ersten Klasse fährt.

STANDARD: Was heißt das?

Walser: Vor ein paar Wochen musste ich von Kassel nach Erfurt. Da musste ich mit einer Kleinbahn fahren. Ich musste aussteigen und hatte mein Handy nicht mehr. Ich habe in einem Bahnhofskiosk drei Stunden lang telefoniert, und es hat sich jemand gemeldet, der es gefunden hat. In der zweiten Klasse finden die Leute etwas und geben das ab. In der ersten Klasse sind nur Spekulanten.

STANDARD: Haben Sie ein iPhone?

Walser: Natürlich. Moment, ich zeige es Ihnen. Ich bin jetzt hysterisch. Wenn man das verliert oder das Reisetagebuch - was ist schlimmer?

STANDARD: Für Sie sicher das Reisetagebuch. Sie haben ein Jahr verloren.

Walser: Ja. Ich glaube aber noch immer nicht, dass es verloren ist.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Das dreizehnte Kapitel" kommt ein iPhone vor, es ist aber ein Briefroman. Ein Mann und eine Frau gehen ein Briefabenteuer ein, keine echte Affäre. "Unsere Buchstabenketten sind Hängebrücken über einen Abgrund namens Wirklichkeit", heißt es. Sie selbst schreiben auch mit der Hand, bevor Ihre Frau Käthe Ihre Manuskripte abtippt. Kann man sich in einem Brief mehr zu sagen trauen? Oder ist man in einem Tagebuch ehrlicher?

Walser: Wenn man ein Tagebuch schreibt, erfährt es niemand. Ich habe immer schon, wenn mir das Wort ehrlich begegnet, gesagt, für mich existiert das nicht. Ich habe es ersetzt durch das Wort genau.

STANDARD: Verwenden Sie ehrlich auch nicht auf sich selbst bezogen?

Walser: Ehrlich will jeder sein. Genau sein zu können ist etwas anderes. Es genügt nicht, ehrlich sein zu wollen, ohne genau sein zu können. Die beiden haben ein Bedürfnis: sich aussprechen können. Das kann man nicht ersetzen durch ein Selbstgespräch. Das ist wie in einen Spiegel zu schauen. Das hat sich bald. Wenn man aber einen anderen hat, dem man sagen will, wie es einem geht, dann merkt man eben, dass man mit zunehmender Genauigkeit Auskunft geben kann über sich selbst, und man hat nicht geglaubt, dass man so viel über sich selbst weiß. Durch das Bedürfnis, dem anderen gegenüber verständlich sein zu wollen. Ich weiß aus Erfahrung, dass es nichts nützt, ehrlich sein zu wollen, ohne genau sein zu wollen.

STANDARD: Kann man sich beim Schreiben genauer ausdrücken als beim Reden?

Walser: Wenn man nicht einmal dem Partner alles sagen kann, wenn man aus dem Supermarkt kommt, am Tisch ist: Man ist eine eingeübte Ehrlichkeitsgemeinschaft. Das ist keine Sprache, die da entsteht. Sprache ist es erst, wenn ich es schreibe. Beide können mehr ausdrücken als zu Hause im Ehegespräch. Ich habe viel Sorgfalt darauf verwendet, zwei glücklichst Verheiratete zu zeigen.

STANDARD: Ist das Verrat, was die beiden machen?

Walser: Das schon. Das ist das Gewürz für das Ganze, dass ein bisschen Verrat dabei ist. Das tut ganz gut, so etwas zu erleben. Aber es ist kein Betrug. Das ist: Treffen wir uns am Samstag im Hotel Adlon. Und dann die ganze Gymnastik. Aus, weg. Mit Ehrlichkeit kommst du da nicht drauf, nur mit Genauigkeit. Das Verraten tut dir gut. Betrug ist nicht vorgesehen. Verrat ist etwas Geistiges verglichen mit dem körperlichen Betrug. Verrat ist etwas Feineres, da muss man formulieren. Deshalb passt es in die Sprachlandschaft der Briefe. Dann kommt so etwas wie Liebe. Es entsteht Liebe durch Sprache. Das sind Sachen, auf die man nicht durch Ehrlichkeit kommt, sondern durch Genauigkeitspraxis. Liebe ist etwas Sprachliches. Damit läuft der Briefwechsel.

STANDARD: Sie haben sehr oft über die Liebe geschrieben. Gibt es in dem Zusammenhang Dinge, die man nur schreiben kann?

Walser: Was man nicht sagen kann, das gibt es nicht. Man kann nicht alles aussprechen, obwohl man es im Kopf hat. Was da angefangen hat als Liebe durch Sprache, das möchte ich noch ein bisschen weiter ausführen. Nächstes Jahr. Irgendwie war das immer ein Problem des Schreibens, diese ganze Unausgesprochenheit von Allerwichtigstem ein bisschen lesbarer zu machen. Ich habe eine ganze Zeit lang gedacht, das mag ich heute kaum noch sagen: das Zur-Sprache-Bringen dessen, was die Liebe ist. Aber was ist das Unaussprechbare? Da war ich lange der naiven Ansicht, das habe etwas mit Konventionen zu tun. Wenn man es sagt, will man anstoßen. Aber das ist es nicht. Es geht um mehr Genauigkeit. Es gibt einen Grad der Genauigkeit, der mir noch mehr vorschwebt, als ich ihn je erreicht hätte. In den 60er-Jahren gab es Henry Miller. Da, wo alles drinsteht. So, wie es heute gang und gäbe ist. Da hab ich mir gedacht: Na, der bringt's halt. Ich bin dann nie in diese Richtung gegangen. Es ist eine Annäherung.

STANDARD: Sie schreiben sehr oft über das Unmögliche. Der Mann in Ihrem neuen Buch sagt: "Wenn man mit allen Möglichkeiten umgeben ist, stirbt das Leben." Muss man das Unmögliche spüren, um weitermachen zu können?

Walser: Es gibt sicher viele, in deren Leben das Unmögliche keine Rolle spielt. Während ich immer von Unmöglichkeiten belagert gewesen bin. Und die haben zugenommen.

STANDARD: Warum zieht sich Ihre Beschäftigung mit dem Glauben durch Ihre Bücher?

Walser: Das ist meine katholische Kindheit, der ich nicht entkommen will und kann.

STANDARD: Sie bezeichnen sich aber nicht als gläubig. Sie sagen: Gott fehlt.

Walser: Der Unterschied zwischen einem Atheisten und mir ist: Mir fehlt er.

STANDARD: In Ihrem Buch "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" schreiben Sie mit Bezug auf den Schweizer Theologen Karl Barth: "Zu rechtfertigen ist man nur als der nicht zu Rechtfertigende." Wollen Sie gerechtfertigt sein?

Walser: Das ist ja der Witz dabei. Ich habe Zeit im Reizklima des Rechthabenmüssens verbracht.

STANDARD: Was heißt "habe verbracht"?

Walser: An sich beherrsche ich mich, nicht mehr recht haben zu müssen. Das Rechthabenmüssen ist eine traurige intellektuelle Beschäftigung. Der deutlichste Ausdruck ist die Meinung. Das ist der traurigste Ausdruck, den ein Bewusstsein haben kann. Das habe ich zu meinem Schaden immer wieder gesagt. Ich habe einen Aufsatz geschrieben, Händedruck mit Gespenstern. Das hat mich Freundschaften gekostet. Da wurde ich von meinen linken Freunden aus der Gemeinschaft der Zurechnungsfähigen entlassen. Da habe ich geschrieben: Es gibt Zeitungen, die sich unabhängig nennen, trotzdem sind sie linke oder nichtlinke Zeitungen. Mir würde ein Leitartikel erst imponieren, wenn der Leitartikel das und auch das Gegenteil schreibt, denn das lässt man aus. Man lässt ja nur das drinnen, was man befördern will. Wenn unsere öffentliche Meinung nur aus dressierten linken oder rechten Meinungen besteht, dann ist sie doch gar nicht mehr so wichtig.

STANDARD: Meinen Sie mehr abwägende Kommentare? Sie fordern eine Kultur der Selbstwiderlegung.

Walser: Abwägend ist nicht mein Wort, sondern Selbstwiderlegung.

STANDARD: Wie soll das praktisch funktionieren?

Walser: Ich habe lange genug im Reizklima des Rechthabenmüssens gelebt. Wenn ich politisch gedachte Aufsätze geschrieben habe, habe ich auch all das weggelassen, was dem widersprochen hat. So passiert das doch andauernd.

STANDARD: Kommt diese Haltung aus Ihren Erfahrungen nach Ihrer Paulskirchenrede, als man Ihnen vorgeworfen hat, einen Schlussstrich unter den Holocaust ziehen zu wollen?

Walser: Natürlich kann man sagen, das geschieht mir recht. Ich habe damals versucht zu sagen: Das Gewissen ist nicht delegierbar, ist die höchst intime Sache. Das Gewissen ist nicht ausdrückbar im jeweilig aktuellen Vokabular. Das habe ich versucht, das ist furchtbar benutzt worden. Ich habe mich eingemischt in einen Diskurs, der eine andere Sprache pflegt. Salomon Korn (Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde; Anm.) hat es Jargon der Betroffenheit genannt.

STANDARD: Bereuen Sie die Rede?

Walser: Nein, das kann ich nicht.

STANDARD: Haben Sie sich missverstanden gefühlt?

Walser: Überhaupt nicht verstanden.

STANDARD: Haben Sie den Erwartungen nicht entsprochen? In Ihrem neuen Buch heißt es: "Die Umwelt hat mich immer danach beurteilt, wie sehr oder wie wenig ich dem entsprochen habe, was sie von mir erwartet."

Walser: Ja, das hat vielleicht noch nicht ganz aufgehört. Früher war ich ein Linker, da hat man linke Meinungen erwartet. Als ich Händedruck für Gespenster geschrieben habe, hat Jürgen Habermas zu mir gesagt: Du hast einen furchtbaren Aufsatz geschrieben. Von da an war Schluss. Weil ich auch das Linke zur Disposition gestellt habe. Du hast immer bei den deinen etwas bekommen, wenn du als Linker der bessere Mensch warst. Das linke Denken ist eine unheimliche Routine des Besserseins, das linke Denken. Wenn man das nicht will, wollen die Leute wieder per Sie sein mit dir.

STANDARD: Wo würden Sie sich selbst verorten?

Walser: Ich verzichte auf Platzanweisungen.

STANDARD: Diese Lust am Provozieren, am Rechthabenwollen ist Ihnen aber nicht ganz vergangen. Wenn man altersmüde zu Ihnen sagen würde, würden Sie das zurückweisen?

Walser: Ja, schon. Man muss sich zwar in einem gewissen Alter alles gefallen lassen. Mein Bedürfnis ist aber, anspruchsvoller zu sein, als einer linken oder rechten Meinungslandschaft zu gefallen. Political Correctness ist ein billiger Anzug von der Stange. Das war immer so.

STANDARD: Haben Sie Beispiele?

Walser: Ende der 50er-, 60er-Jahre: Wenn man einen Roman geschrieben hat, war die Frage, ob er gesellschaftsfähig ist. Ich habe schon 1957 gesagt, das halte ich für ein für mich nicht brauchbares Wort. Mein Schreibtisch steht mitten in der Gesellschaft. Als ich 1961 ein Buch für die SPD herausgegeben habe, war ich links. Dann habe ich 1965 nicht mehr mitgemacht, weil sich die SPD nicht zu Vietnam verhalten hat, dann war ich Kommunist. Als ich die deutsche Teilung als unmöglich befunden habe, war ich rechts. Dann antisemitisch. Dabei habe ich mich beschämend wenig in meinem Leben geändert.

STANDARD: In Wien werden Sie bei der Jan-Patocka-Gedächtnisvorlesung nächsten Freitag wieder über Rechtfertigung sprechen. Wird Karl Barth wie in Ihren vergangenen Büchern eine zentrale Rolle spielen?

Walser: Wahrscheinlich brauche ich immer einen Paten. Jetzt muss ich noch über Karl Barth sprechen, weil ich dankbar bin für die 650 Seiten Römerbuch. Vor zwanzig Jahren hätte ich Friedrich Nietzsche genommen. Nietzsche hat sich über alle Zeiten hinweg in mir gehalten. Wegen seiner Genauigkeit. Abends lese ich immer Nietzsche. Im Moment die nachgelassenen Schriften von 1886. Die Fähigkeit, so genau zu formulieren, das ist immer ein Anspruch. Wenn ich das abends lese, fühle ich mich unheimlich lebendig, in mir funkelt es geradezu.

STANDARD: Können Sie dann einschlafen?

Walser: Ich freue mich auf den nächsten Tag, dass ich dann über dem Papier sitze. Vieles von dem Glanz, von dem hellen Andrang, das ist dann nicht mehr so. Es gibt natürlich Meinungen, die ganz blöd sind. Es gibt keinen Autor außer Nitzsche, dem ich das verzeihen würde. Aber er widerspricht dann an anderen Stellen. Er ist ein Meister der Selbstwiderlegung.  (Alexandra Föderl-Schmid/DER STANDARD, 17./18. 11. 2012)