Rom als eine sozial kälter gewordene Stadt, deren Einwohnern die Leichtigkeit abhandengekommen ist, und als derb-vulgäre Stadt voller Kuriosa: Dante Andrea Franzetti.

Foto: Robert Bosch Stiftung / Yves Noir

"Was soll jemand von der Stadt Rom erwarten, der so viel schon über ihre Hügel vernommen hat?" Das meinte Francesco Petrarca im Jahr 1337, also vor 675 Jahren. Seither hat die Literatur über die Ewige Stadt Dimensionen angenommen, angesichts deren es dem Notarssohn aus dem toskanischen Arezzo wohl die Sprache verschlüge und er seine Schreibfeder entsorgte.

Eine Reise nach Rom gehörte jahrhundertelang zum Repertoire abendländischer Bildung, sie war Station jeder Grand Tour im 18. Jahrhundert. Die Stadt am Tiber war "caput mundi", das Haupt der Welt: als religiöser Mittelpunkt des christlichen Glaubens. Heute historisch stark verblasst ist, dass sich der Vatikanstaat einst über Mittelitalien erstreckte und politisch ein europäischer "power broker" war.

Der Gymnasiallehrer Johannes Mahr baut sein Rom-Lesebuch chronologisch auf. Er setzt ein mit einer distinguierten Einleitung, worauf Textauszüge aus neun Jahrhunderten folgen: von Petrarca und Ariost über Winckelmann, Goethe, Byron und Grillparzer ("Seid gegrüßt, ihr heil'gen Trümmer, / Auch als Trümmer mir gegrüßt!") bis zu Günter Eich ("Zu viel Abendland, verdächtig"), Pier Paolo Pasolini, Elsa Morante, Rolf Dieter Brinkmann, Joseph Brodsky und Josef Winkler.

Alltag, Fußball, Rassismus

Die zwei jüngsten Exzerpte in dieser gelungenen, wenn auch zu deutschlastigen Zusammenstellung, bei der nur wenige Texte austauschbar anmuten - wieso nicht eine Passage aus Axel Munthes Das Buch von San Michele anstelle von Stefan Georges Leo XIII.? -, stammen aus dem Jahr 2010, von Ingo Schulze und Durs Grünbein.

Der Zürcher Autor Dante Andrea Franzetti hat über Rom ein Buch geschrieben, das die Mahr'sche Anthologie um starke Farbigkeit und erfrischend andere Nuancen ergänzt: um Alltag, Fußball, Rassismus, die Veränderungen im Leben und Zusammenleben. Denn im Gegensatz zu Schulze und Grünbein, die sich als Stipendiaten der Deutschen Akademie Villa Massimo in saturierten Verhältnissen am Tiber aufhielten - Schulze 2007, Grünbein 2009 - und unvermeidlicherweise Rom-Impressionen zu Papier brachten, kennt der heute 53-jährige Franzetti, Sohn eines Italieners und einer Schweizerin, die Stadt seit 40 Jahren - aus multipler Perspektive. Er ist zweisprachig aufgewachsen und kann sich ob seines dezenten Akzents ironisch am Tiber als Triestiner deklarieren.

Vier Jahre lang war er zudem Rom-Korrespondent für Zeitungen und Rundfunk; heute leben dort seine zwei noch minderjährigen Söhne. Und im Gegensatz zum Dresdner Schulze, der auch am Tiber über die DDR schreibt, und den reichlich gipsernen Poemen Grünbeins haust er, wenn er mehrere Wochen am Stück in der italienischen Hauptstadt ist, in ei- nem Substandardzimmer, aus dem er im Streit mit dem diktatorischen Vermieter flieht, oder in Flohhotels der untersten Kategorie.

Sein Rom ist das der Ränder, ist das rabiater, ideologisch wüster Debatten in kleinen Bars, wo Neofaschisten auf die Demokratie schimpfen und drastisch ausmalen, was sie mit in ihren Augen Unerwünschten anstellten - allerdings haben sie bei Wahlen bisher stets der KPI ihre Stimme gege-ben -, ist das einer sozial kälter gewordenen Stadt, deren Einwohnern die Leichtigkeit abhandengekommen ist. Es ist eine derb vulgäre Stadt voller Kuriosa; und es ist die Stadt des Fußballs, der Rivalität zwischen den Clubs AS Roma und Lazio.

Gerade weil Franzetti sich nicht als Flaneur bekennt, sondern kokett als " siégeur", als Belagerer, und im Sitzen oder vom Bartresen aus den Kleinkosmos einiger ausgewählter normaler Distrikte beobachtet, ist sein Buch so erhellend, überraschend und lesenswert. Völlig unakademisch studiert er die Stadt als lebendes, pulsierendes Subjekt, Quartiere wie Salario-Trieste im Norden der Kapitale, das Pigne-to-Viertel nahe dem Verano-Friedhof und einige Straßenzüge bei der Porta Cavalleggeri, die Franzetti "Hinter den vatikanischen Mauern" nennt.

Er, der jüngst überraschte mit zwei sehr unterschiedlichen Publikationen, einem Buch über den Schweizer Clown Pic (Das Bein ohne Mann) und einem enragierten, bös treffenden Glossenband über einen erzkonservativen Herausgeber einer einst angesehenen und liberalen Schweizer Wochenzeitung, schreibt in Zurück nach Rom, in dem magnetische Anziehung sich mit Bestürzung über die politisch verrotteten Drolerien der Berlusconi-Zeit abwechselt, Scharfspitzes auf Bestürzendes wie Impressionistisches trifft, entspannt und atmosphärisch und ist dabei so virtuos wie in seinem letzten Roman Mit den Frauen, der von der Kritik fahrlässig ignoriert wurde. Dabei ist Franzetti einer der raren, weil zarten deutschsprachigen Schreibberserker, seine Passion. Journal für Liliane (2006) eines der großen Liebes-, Sehnsuchts- und Liebesverlustbücher der letzten Dekade.

Wie schrieb Luigi Malerba in seinen Taschenabenteuern? "'Wir Römer sind vielleicht große Schweine', sagte die Fremdenführerin, die eine Römerin war und sich gekränkt fühlte, 'aber wir haben Rom gebaut - und ihr?'" (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 24./25.11.2012)