Hat er nun gesagt "Das war's" oder "Das war's dann"? Die Erinnerungen der Ohrenzeugen sind bald nicht mehr kongruent; fest steht, dass Marek Olsberg, der gefeierte Pianist, bei seinem selbstverständlich ausverkauften Konzert in der Berliner Philharmonie mitten im letzten Satz von Beethovens Hammerklaviersonate zu spielen aufgehört, den Klavierdeckel nachdrücklich geschlossen und das Podium verlassen hat. Ein starker Abgang, auf den uns Alain Claude Sulzer bereits zu Beginn seines neuen Romans vorbereitet hat: Olsberg "war seit seinem achten Lebensjahr auf einer unendlichen Reise durch die Welt, auf allen Kontinenten".

Schon lange hat er keinen - männlichen - Partner, das vereinfacht die Sache. De facto ist Astrid seine Lebensgefährtin, die unentbehrliche Sekretärin, sein "selbstloser Kalender". Olsberg leidet nicht darunter, aus dem Koffer zu leben, aber sein fünfzigster Geburtstag steht bevor, und er hat das diffuse Gefühl, sich eine Entscheidung schuldig zu sein.

Rund um den Starpianisten hat Sulzer ein Panorama von Figuren ausgemalt, die mit unterschiedlichsten Herkünften und Motiven dem Konzert beiwohnen oder jedenfalls beiwohnen wollen. Dass es mit einem Eklat endet, wirkt sich mittelbar auch auf ihr Leben aus.

Die Arztgattin Esther zum Beispiel kommt früher nach Hause als angekündigt und deshalb ihrem Mann auf die Schliche, der sich mitnichten mit einem Bier vor dem Fernseher vergnügt, sondern mit seiner Geliebten außer Haus. Dabei war Esther doch davon überzeugt, eine gute Ehe zu führen: "Eine gute Ehe war eine, um die die anderen einen beneideten." Beim ersten Kontakt nach der Enttarnung hält sie mit ihrem Wissen noch hinterm Berg: "Sie log, wie er log, nur dass ihre Lügen auf verschiedenen Fundamenten standen."

Ein routinierter Lügner ist auch der Werbefilmer Johannes, der den Klavierabend sein lässt und die junge Frau vom Escortservice lieber gleich ins Hotel mitnimmt. Erst "danach" erkennt er sie: Bettina, die Tochter seines besten Freundes. Als Johannes seiner Gattin vom nicht gehörten Konzert vorschwärmt, überführt er sich durch seine Unwissenheit: Natürlich sind die Zeitungen voll von Olsbergs Arbeitsverweigerung.

"Aus den Fugen" gerät hier also nicht nur das Leben des Klavierspielers, sondern auch das der Trabanten seines Ruhms. Die Sekretärin Astrid, die das Konzert migränegeplagt im Künstlerzimmer verschläft, wird einen neuen Lebensinhalt brauchen. Olsbergs Agent und Ex-Liebhaber Claudius büßt seinen schönen, jungen Lover Nico ein, man streitet im Taxi, Claudius muss allein zum Konzert. Sophie führt ihre halbwüchsige Nichte Clara aus, die sich als äußerst kratzbürstig erweist und der spendablen Tante sogar ihren die Grenzen maßvollen Genusses überschreitenden Alkoholkonsum vorhält.

Claras Mutter hat Sophie einst den Mann ausgespannt, die Schwestern sind verfeindet, und es scheint, als würde es auch zwischen Tante und Nichte bald so weit sein, da reagiert das Mädchen auf einen Ausbruch Sophies zum ersten Mal mit Zuwendung: Kein Grund, meint sie, dem Ex-Mann nachzuweinen, der notorische Schwerenöter betrügt jetzt die Schwester mit der Stieftochter: mit ihr. Natürlich spielt Sulzers fein komponierter Episodenroman auch mit der Form der Fuge: Die Exposition führt Olsberg als erste Stimme ein, mit der dann die übrigen kontrapunktisch verwoben werden. Eine "Coda" gilt den Nachwehen des Skandals. Gleichsam aus den Fugen heraus ist Olsberg davongestürzt, nach Samuel Barbers halsbrecherischer Sonate Op. 26 wird Beethovens wahnwitzig schwieriges Opus 29 zum Schicksalsstück: Dessen Fuge im vierten Satz bleibt unerlöst - schließlich heißt "fuga" Flucht.

Manches aber geht allzu erwartbar und glatt vonstatten. Als Esther hoffnungsfroh nach Hause kommt, weiß der Leser schon seit Ewigkeiten, was es geschlagen hat. Der Leihkellner Lorenz, der nach dem Platzen der Olsberg-Party einer plötzlichen Vision von amourösem Zukunftsglück folgt und die Villa der Mäzenin ausräumt, wird von der gnädigen Frau gestellt und in Gnaden, das heißt: mit der Beute, entlassen. Und Olsberg trifft in der Bar ausgerechnet Nico, den herrenlosen Adonis, der ihm sozusagen in den Schoß fällt.

Einiges bleibt gottlob offen: ob Esther sich für die eheliche Lebenslüge oder die Trennung vom untreuen Gatten entscheidet. Auch ob Olsbergs Rückzug ein endgültiger ist, oder wie einst bei Wladimir Horowitz, für den Barber seine Sonate schrieb, nur eine krisenbedingte Auszeit.

Dass Sulzers Welt nach Hamlet'scher Manier aus den Fugen gerät, wird man indes nicht behaupten können. Ein Milieu, in dem immer Foie gras und Chablis im Kühlschrank warten, bietet ein gewisses Sicherheitsnetz. Marek Olsbergs Problem ist eine Vereinsamung auf hohem Niveau, quasi ein Gipfelstürmerleiden.

Den musikalischen Reigen der Unzufriedenen hat der Autor grazil und präzis arrangiert. Es gibt herrlich prägnante Sätze in dieser Fuge und keinen falschen, keinen schrillen Ton, aber auch keinen existenziellen Taumel. Selbst im Chaos bewahrt Sulzers Erzählweise das Gediegene, was Flucht sein könnte, erscheint als geordneter Rückzug. Aber auch der gehört zur Kriegskunst.  (Daniela Strigl, Album, DER STANDARD, 1./2.12.2012)