Verfolgt als jüdischer Jugendlicher, Ungarn-Flüchtling und politischer Journalist: Der bekannte Osteuropa-Experte und Publizist Paul Lendvai blick in seinen Erinnerungen auf ein aufregendes Leben zwischen Ost und West.

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"Leben eines Grenzgängers" ist soeben bei Kremayr und Scheriau erschienen. Am Donnerstag, dem 21. 3., 19.30 Uhr, spricht Paul Lendvai mit Cornelia Vospernik in der Buchhandlung Morawa, 1010 Wien, Wollzeile 11, über sein Buch.

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Die ungarische Journalistin Zsófia Mihancsik, die die Fragen im Buch "Leben eines Grenzgängers" gestellt hat, erkundigt sich bei Professor Lendvai, ob man Österreich und Ungarn hinsichtlich ihres Umgangs mit den dunklen Seiten ihrer Geschichte vergleichen kann.

Lendvai: Man kann die beiden Länder diesbezüglich nicht vergleichen. Es vergeht nämlich keine Woche, in der nicht ein Artikel, eine Abhandlung, ein Buch über das erscheint, was 1938, davor und danach in Österreich geschah, das Interesse daran wird permanent wachgehalten, auch durch die bürgerlich-konservative Presse. Niemand darf die Tatsache vergessen, dass die Nazis ein Drittel der österreichischen Juden umgebracht haben, zwei Drittel konnten sich retten.

2012 wurde auf eine von den Sozialdemokraten ausgehende Initiative hin ein Teil der Ringstraße in Wien umbenannt, der bis dahin den Namen von Karl Lueger, dem populären christdemokratischen Wiener Bürgermeister und berüchtigten Antisemiten, trug - er war übrigens derjenige, der Ungarn nach dem Ausgleich von 1867 "Judapest" genannt hat.

Österreich lädt alljährlich Verwandte der in der Nazizeit Ermordeten oder Überlebende des Terrors ein, ganz gleich, ob sie in Österreich gelebt haben oder emigriert sind. Es gibt hierzulande mehrere Holocaust-Museen, die jüdischen Friedhöfe werden von Studenten gepflegt. In Österreich bekennt man sich auch zur Restitution von Raubgut, die es in Ungarn noch nicht gibt. Dabei haben auch dort viele von der Ermordung vermögender Juden profitiert.

Sicher gibt es auch in Österreich eine rechtsextreme Wählerschicht, die etwa zehn, vielleicht sogar bis zu zwanzig Prozent ausmacht. Aber ihre verworrene Ideologie findet sich in der Alltagssprache nicht wieder und ist auch - das ist das Wichtigste - aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Insofern ist die Situation nicht mit der im heutigen Ungarn zu vergleichen, wo der Ministerpräsident tönen darf, dass die Rehabilitation Horthys nicht seine Angelegenheit sei, sondern die der gewählten Selbstverwaltung; wo die Jobbik genannte Partei der Rechtsextremisten allwöchentlich antisemitische und rassistische Attacken reitet, meist mit Duldung der Regierungspartei. So etwas erlaubt sich in Österreich auch die rechte Freiheitliche Partei nicht, denn es widerspricht den Normen des öffentlichen Lebens und der Verfassung, und auch die Wähler tolerieren es nicht. Leider gibt es, nicht nur was das Pro-Kopf-Einkommen, sondern auch was die Pro-Kopf-Moral angeht, zwischen Österreich und Ungarn eine abgrundtiefe Kluft.

Mihancsik: Also wäre in Österreich gar nicht möglich, was der ungarische Justizminister Tibor Navracsics geäußert hat, als er auf die ehrenvolle Wiederbestattung eines ungarischen Schriftstellers angesprochen wurde, der in Siebenbürgen eine tiefbraune Nazi-Vergangenheit hatte; der Minister sagte nämlich: "Mit solchen Dingen befassen wir uns gar nicht, denn die Regierung ist kein historischer Verein."

Lendvai: So etwas wäre hier ausgeschlossen. Wollte sich ein Politiker der ÖVP in einer solchen Frage auf ähnliche Weise äußern, würde auch die konservative Presse kein gutes Haar an ihm lassen. Was wären die Lehren aus der Geschichte, die Ergebnisse der historischen Forschung noch wert, wenn sich Politiker, zumal die der Regierungspartei, davon distanzieren und sie ihrem Volk gegenüber nicht hochhalten würden?

Sicher, in Sachen Fußball meldet sich Ministerpräsident Orbán regelmäßig zu Wort! Diesen Sport nimmt auch die Regierung ernst! Doch sie glaubt, das Wiedererstehen einer Nazi-Bewegung in Ungarn gehe sie nichts an. Kann man sich denn noch offensichtlicher selbst entlarven?

Mihancsik: Ja, für den ungarischen Leser ist bitter, was du in einem Buch über Bruno Kreisky zitierst. "Die Österreicher konnten aus der von außerhalb, also vom Ausland kommenden Anerkennung für den Regierungschef den Eindruck gewinnen, dass auch sie wieder etwas galten: Durch die Person des Kanzlers bekam das Volk die Bestätigung, dass aus dem zuerst aufgeteilten und nun in Trümmern liegenden Land wieder ein geschätztes Mitglied der Staatengemeinschaft geworden war." Wie traurig ist es aber, so etwas zu lesen, weil sich in Ungarn heute genau der gegenteilige Vorgang abspielt, und zwar unter akti- ver Mitwirkung von Viktor Orbán. Anders als seinerzeit Kreisky verschafft der Ministerpräsident dem ungarischen Volk nicht nur kein Ansehen in der Welt, sondern er will das Land sogar gegen diese missgünstige Welt ringsum abkapseln und in einen kollektivistischen, christlich-nationalen Wahnsinn einlullen.

Lendvai: Das hat die Politik Orbáns tatsächlich zur Folge gehabt, und deshalb ist es so bedauerlich, dass er immerzu im Namen aller Ungarn spricht und die weltweite Kritik mit Hinweis auf das Ehrgefühl des gesamten ungarischen Volks zurückweist. Dabei ist doch klar und deutlich, dass ein großer Teil der Ungarn das gar nicht will. Niemals, nicht einmal in den kritischsten Phasen seiner Geschichte, hätte in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg ein Politiker so auftreten können. Er wäre auf der Stelle unglaubwürdig, würde ausgelacht, wenn er behaupten wollte, es sei ein Angriff auf die Würde seines Volkes, wenn jemand die österreichischen Bankzinsen, die Menge der nach Osteuropa vergebenen Kredite oder die politische Korruption kritisieren würde. Das wäre zwar Kritik an politischen Entscheidungen, aber sicher kein Angriff auf das Land und seine Menschen.

1986, zur Zeit der Waldheim-Affäre, oder im Jahr 2000, als das schwarzblaue Bündnis zustande kam, hat die österreichische Regierung sich auf ähnliche Weise zu rechtfertigen versucht, doch damals ging es um andere Tatbestände, damals wurde tatsächlich und zu Recht die Aufmerksamkeit auf die dunkelste Zeit der österreichischen Vergangenheit gelenkt und damit eine Klärung bewirkt, die längst überfällig war. Würde sich doch auch Ungarn einmal ehrlich mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen! Doch dort gibt es eine Regierung, der die Wähler zu einer Zweidrittelmehrheit verholfen und die sie mit großer Macht ausgestattet haben; die nützt sie jetzt zum Beispiel dazu, ausländische Anleger und Banken zu vertreiben, im eigenen Land die demokratischen Institutionen zu entmachten, eine durch und durch voluntaristische Politik zu betreiben und so mit der halben Welt in Konflikt zu geraten. Auf jede kritische Äußerung reagiert sie, als wäre es ein Angriff auf das ungarische Ehrgefühl, die ungarische Freiheit, die ungarische Unabhängigkeit, eine Kampfansage an alle ungarischen Wünsche und Sehnsüchte. Und schließlich versucht sie zu suggerieren, dass dieses Ungarn, mitten im Karpatenbecken zu Hause, ein ganz besonderes Land mit einem ganz besonderen Volk sei. So ähnlich hat Stalin über das russische Volk gesprochen, und so argumentierte auch Milosevic - dabei herausgekommen ist dieser grauenhafte Krieg auf dem Balkan.

Wir wollen keine Kolonie sein, sagt Orbán, obwohl die Zukunft des Landes doch auch davon abhängt, dass ausländisches Kapital ins Land fließt, die Wirtschaftskontakte funktionieren, die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds Kredite geben. Wenn all das nicht sein soll, all das ausbleibt, wird es zu einer Verarmung kommen, wie sie nach allen zur Verfügung stehenden Daten in Ungarn schon jetzt nachweisbar ist. Orbán und die Seinen versuchen, ihren politischen, in die Nationalflagge eingepackten Staatsstreich zu legitimieren, und sie nützen jede kritische Bemerkung aus dem Ausland zur Stabilisierung ihrer Position mit dem simplen verbalen Trick, alle Kritik von außen als infame Attacke gegen die ungarische Nation zu deklarieren. Sie haben keine Antwort auf die Frage, warum nicht auch Polen oder Tschechien dauernd von der halben Welt kritisiert werden. Du hast also recht mit deiner Feststellung, in Ungarn erleben wir in dieser Hinsicht einen schweren Rückfall, und mit Österreich ist das Land auch in dieser Hinsicht nicht vergleichbar. (Album, DER STANDARD, 16./17.3.2013)