Als Friedrich Nietzsche (1844-1900) sein vormaliges Idol Richard Wagner posthum zum "Décadent" und Hysteriker erklärte, musste er Teile seines Selbst verleugnen. Nietzsche, der Pastorensohn aus Röcken, war wie kein anderer Gelehrter dem Erbe Wagners verpflichtet.

Als junger Basler Professor für Philologie galt er noch als schwärmerischer Hausfreund des Paares Richard und Cosima Wagner. Er donnerte begeistert Wagner-Akkorde in die Tasten. Er tollte mit Klein Siegfried, dem Spross des Tonsetzers, ums Haus im Luzerner Land. Vor allem aber stieß Nietzsche mit seinen Thesen zum alten Griechentum bei Wagner auf nur allzu geneigte Ohren.

Der Ältere besaß ein untrügliches Gespür für die Nützlichkeit von Mitmenschen. Nietzsche brachte in seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) das Wagner'sche Musikschaffen auf einen vorläufigen Begriff. Indem er das dionysische Prinzip als machtvolle Bekundung des Urwillens gegen das Apollinische geltend machte, identifizierte er Wagners Musik als vitale Kraft. Der Komponist von Tristan und Isolde schien aus derselben Quelle zu trinken, von der auch die alten Tragödiendichter genossen hatten.

Rausch und Begeisterung durchzuckten Nietzsche. Aus dem jungen Philosophen sprach ein zu Wagner und dessen Gesamtkunstwerk rückhaltlos Bekehrter. Das Verhältnis der beiden hatte etwas von Jesus Christus und Johannes dem Täufer, mit dem Unterschied, dass Wagner der bedeutend Ältere war. Der Komponist feierte die Grundsteinlegung in Bayreuth natürlich im Beisein seines Propheten. Es fällt in der Tat schwer, die Gründe für ihr ernstes Zerwürfnis auszuforschen. Nietzsche nahm als schonungsloser Diagnostiker des Kulturverfalls ja auch sein eigenes, abgelebtes Ich heftig ins Visier.

Ein letztes Treffen der beiden in Sorrent 1876 endet disharmonisch. Man weiß nicht recht: Litt Nietzsche, der allmählich zum Sonderling verkam, einfach nur an seiner zermürbenden Migräne? Sollte sich Wagner, wie manche behaupten, gegenüber Nietzsche eine antisemitische Unflätigkeit herausgenommen haben (sie betraf nicht Nietzsche selbst, sondern einen befreundeten Arzt)? In Der Fall Wagner, geschrieben 1888 in Turin, ist von der ursprünglich herrschenden Ambivalenz fünf Jahre nach Wagners Tod praktisch nichts mehr übrig. Nietzsche schreibt im moussierenden Ton dessen, der sich gegen die übrige Welt im Recht wähnt. Vor allem aber hat er eine neue Liebe entdeckt: die Oper Carmen von Georges Bizet.

Nietzsches rhetorische Taktik war ebenso simpel wie wirkungsvoll. Erst indem er vorgab, an Bizet einen Narren gefressen zu haben, konnte er aus dem so gänzlich anders gearteten Bayreuther Meister einen Décadent machen. Wagner, der Revolutionär von einst, sei auf dem "Riff" von Schopenhauers Philosophie festgesessen. Der Komponist als Kraftkerl habe im Parsifal das Mitleiden entdeckt. Wagner nennt der furiose Polemiker von nun an einen "Verderber", der mit seiner zusammengebastelten Musik die Nerven seiner Zeitgenossen "agitiert" habe. Wagner bekommt sein Fett ab als "Schauspieler", dem es bloß um Wirkung gegangen sei. Dass gerade darin das Ingenium des Rivalen gelegen haben könnte, kam Nietzsche gar nicht in den Sinn. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 9.4.2013)