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Wo ist Waldo? Hobbyforensikern steht reichhaltige Literatur als Beschäftigungstherapie bereit.

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Während der stundenlangen Suche nach dem geflüchteten Verdächtigen sah sich die Bostoner Polizei am Freitag genötigt, via Twitter dazu aufzurufen, die Sicherheit der Beamten nicht durch die Veröffentlichung von Fotos zu gefährden.

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"Da Hofa woa's, vom Zwanzgahaus, der schaut ma so verdächtig aus!", sang Wolfgang Ambros Anfang der 70er Jahre über einen sich zusammenrottenden Lynchmob, der Ermittlungen in einem Mordfall in die eigene Hand nehmen und Selbstjustiz üben will. Wie sich herausstellt, jagen die Nachbarn allerdings einen Unschuldigen: "Der Hofer" ist in Wirklichkeit das Mordopfer.

Die Zeiten haben sich in den vergangenen vier Jahrzehnten geändert, und die Bassena, der Ort, an dem früher Klatsch und Tratsch abgehandelt wurden, ist längst durch virtuelle Cyber-Bassenas ersetzt worden. Doch die Natur des Menschen ist gleich geblieben: Die Gruppendynamik funktioniert bei einem Mob auf der Straße genauso instinktgesteuert wie in den Internetforen im Zeitalter von Social Media, und so lässt sich im Netz eine neue Modetorheit beobachten: Während sich viele Internetuser in den ersten Jahren des Aufkommens von "Web 2.0" selbst zu Journalisten und damit zur Vierten Gewalt im Staat ernannten, wird mittlerweile, offensichtlich verstärkt durch den Konsum realitätsferner TV-Krimiserien wie "CSI", auch die Säule der Exekutive und teilweise sogar die Judikative für sich beansprucht.

Ethnic Profiling

Dies zeigte sich schon im Vorjahr nach dem Tod des kanadischen Cybermobbing-Opfers Amanda Todd, als sich die Hackergruppe "Anonymous" auf die Suche nach einem Verantwortlichen für den Suizid der Jugendlichen machte und einen Unschuldigen an den Onlinepranger stellte, der daraufhin tausende Todesdrohungen erhielt. Rechtliche Konsequenzen hatte dies für die Verleumder aus den Reihen des "Anonymous"-Kollektivs, das sonst hauptsächlich durch verschiedene Formen des digitalen Vandalismus auf sich aufmerksam macht, für sich jedoch in Anspruch nimmt, als führungsloses globales Gehirn zu agieren, keine.

Nach dem Anschlag auf den Boston-Marathon am Montag geriet zunächst ein Student unter Verdacht, wurde verhört und seine Wohnung durchsucht. Er hatte sich verdächtig gemacht, weil er nach der Explosion verletzt davongelaufen war - und weil er aus Saudi-Arabien stammt. Als wäre diese Methode des Ethnic Profiling seitens der staatlichen Behörden nicht bedenklich genug, wurden durch Hobbyforensiker auf den Internetplattformen "4chan" und "Reddit" tagelang mehrere Unschuldige als Terrorverdächtige präsentiert. Ihr Verbrechen: sie trugen schwarze Nylonrucksäcke und hatten teilweise eine dunklere Hautfarbe. Die Polizei hatte nach dem Anschlag Zeugen aufgerufen, Fotos und Videos vom Tatort den Behörden zu übergeben. Stattdessen wurde zahllose Bilder vom Anschlagsort ins Internet gestellt und nach Verdächtigen durchsucht, die "Terroristen" säuberlich markiert. Dass öffentliche Ermittlungen den Tätern in die Hände spielen könnten, das kümmerte die Möchtegernermittler wenig.

"Wir haben uns geirrt"

Donnerstagabend veröffentlichte schließlich die Polizei Fahndungsbilder von zwei Verdächtigen - auf diese, wie sich herausstellte, richtige Spur kamen die Behörden nicht dank der Hobby-Ermittler, sondern durch die Aufnahmen von Überwachungskameras.

Bald darauf wurde schließlich ein Name veröffentlicht: Ein User behauptete, diesen (exotisch klingenden) Namen im Polizeifunk gehört zu haben. Wie sich bald herausstellte, ist der Student seit etwa einem Monat abgängig und wird von seiner Familie mit Hilfe einer Facebook-Seite gesucht, er soll unter psychischen Problemen leiden und einen Abschiedsbrief hinterlassen haben. Und er sieht einem der Männer auf den unscharfen Bildern aus der Überwachungskamera entfernt ähnlich. Der Mob hatte seinen Täter gefunden.

In zahllosen Postings auf Twitter, Facebook und anderen Foren wurde dieser mit hasserfüllten Meldungen übergossen. Hunderte Male wurde die Twitter-Meldung, Fotos inklusive, weitergeleitet, dass "Reddit" den Fall gelöst habe und der abgängige Student der Gesuchte sei. Nachdem die Polizei die wahre Identität der Verdächtigen veröffentlicht hatte, wurde in den Foren Empörung laut. Ein Moderator von "Reddit" entschuldigte sich: "Wir haben uns geirrt. Dieser Vorfall zeigt, warum es die Regel gibt, keine personenbezogene Information vor einer Bestätigung zu veröffentlichen."

Bis zur nächsten "CSI"-Folge

Nicht ohne Grund sah sich die Bostoner Polizei am Freitag während der stundenlangen Suche nach dem geflüchteten Verdächtigen genötigt, via Twitter dazu aufzurufen, die Sicherheit der Beamten nicht durch die Veröffentlichung von Fotos zu gefährden.

Ob die Bassena-Gemeinschaft daraus etwas gelernt hat? Vielleicht. Aber höchstens bis zur nächsten "CSI"-Folge. Bis dahin steht den Hobbyforensikern eine reichhaltige Literatur als Beschäftigungstherapie bereit. (Michael Vosatka, derStandard.at, 20.4.2013)