Exempel, wie eine "kleine" Literatur auszusehen hätte, hat Franz Kafka zahlreiche gegeben. So sind in seinem Erzählwerk mit erschreckender Häufigkeit Tiere am Wort. Die Hunde, der Gregor-Samsa-Käfer und die piepsende Singmaus Josephine: Sie alle scheitern bei dem Versuch, sich klar und deutlich zu artikulieren. Sie alle zeigt der Dichter auf dem Weg in Ausdrucksbereiche, die den Ohren wenig schmeicheln. Zugleich wird von ihnen jeder Gedanke an Kunst im Keim erstickt.

Es besitzt eine gewisse Folgerichtigkeit, dass die beiden französischen Denker Gilles Deleuze (1925–1995) und Félix Guattari (1930– 1992) in Kafka einen Gewährsmann für ihre neuartigen Auffassungen sahen. In ihrem Anti-Ödipus (1972) waren die beiden über die Psychoanalyse zu Gericht gesessen. Es sollte endlich Schluss sein mit den immer gleichen Symbolisierungen des Begehrens: mit dem familiären Dreieck und den aus ihm abgeleiteten Archetypen. Mit den Besetzungen und Markierungen im Feld der Identität.

Bei Kafka sahen Deleuze/  Guattari andere folgenreiche Mechanismen am Werk. Der Autor lebte in Prag. Er war Bewohner einer deutschen Sprachinsel, deren Idiom in Ermangelung seiner Ausübung dabei war auszutrocknen, karg zu werden, ein blasses Schriftdeutsch ohne Ausschmückungen.

An Kafka bewundern Deleuze/Guattari den Mut, sich zweifach "deterritorialisieren" zu lassen. Der lebenslange Junggeselle gehörte der jüdischen Minderheit an, und er arbeitete planmäßig an der Abrüstung seines Handwerkzeugs. Mit dem abgespeckten Deutsch im Gepäck geht Kafka auf Reisen: als Briefschreiber, als Erzähler, als Verfasser unabschließbarer Romane. Das Ziel seiner Expeditionen ist die Wüste, das von keinen symbolischen Markierungen angetastete Land.

Kafka baut Maschinen. Seine Apparaturen sind kleine Wunderwerke. Ein namenloses Verlangen tritt an die Stelle des ödipalen Begehrens. Kafkas Text-Maschinen bilden endlose Verkettungen. Die Sprache der piepsenden Tiere soll "sich überschlagen", soll vor Intensität vibrieren. Deleuze und Guattari sind in ihrem Essay Kafka. Für eine kleine Literatur (1975) der Topografie der Zukunft auf der Spur. Kafka ist ihr Platzanweiser. Die Reise führt in die Welt der Tausend Plateaus (1980). (Ronald Pohl, DER STANDARD, 24.4.2013)