Sokrates (469 bis 399 v. Chr.) - hier eine Statue in Athen - hinterließ selbst keine Texte. Seine Ideen, etwa philosophische Dialoge als Mittel der Erkenntnis, sind vor allem durch Schriften seiner Schüler (z. B. Platon) überliefert.

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"Sich auf die Schüler einzulassen ist viel wichtiger als die Stoffhuberei."

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STANDARD: Sie werden in Wien über "Grundlagen sokratisch orientierter Fachdidaktik für den Philosophie- und Ethikunterricht" referieren – was können wir denn von dem Sokrates der Antike lernen?

Gisela Raupach-Strey: Am antiken Aufklärer Sokrates können wir ablesen, dass der ursprüngliche Ort des Philosophierens nicht die Bücher oder aufgeschriebene Gedanken sind, vielmehr der Marktplatz, der öffentliche Raum, in dem Menschen so, wie sie sind, unmittelbar miteinander ins Gespräch kommen. Diese Beteiligung der Menschen ohne Vorbehalt und ohne besondere Voraussetzung lässt sich nach heutiger Auffassung im Prinzip auf alle Menschen übertragen: nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder, auch im Grundschulalter, nicht nur "Herren", sondern auch "Knechte", nicht nur Europäer, sondern auch Menschen anderer Kulturen. In sokratischen Gesprächen wird ein Stück Gleichberechtigung verwirklicht.

STANDARD: Was ist ein "sokratisches Gespräch" heute?

Raupach-Strey: Am Anfang des Philosophierens steht immer eine Frage, etwa: "Gibt es ein Schicksal?", "Darf man manchmal lügen?", "Was ist (un)gerecht?", "Was braucht der Mensch?" Auch in der neueren Tradition sokratischer Gespräche, die auf den Göttinger Philosophen Leonard Nelson (1882-1927) und den hannoverischen Pädagogikprofessor Gustav Heckmann (1898-1996) zurückgeht, beginnen wir zu der gestellten Frage immer mit einem konkreten Beispiel aus der Lebenswelt, das dann auf Grundsätzliches hin untersucht wird. Das Zulassen von Fragen unserer Schüler sollte in der Schule viel mehr Raum haben – allerdings dann auch die gemeinsame, sorgfältige Antwortsuche. Ein sokratisches Gespräch ist anspruchsvoll und weder mit beliebigem Gerede noch mit bloßem Meinungsaustausch zu verwechseln.

STANDARD: Wie verläuft so ein "sokratisches Gespräch"?

Raupach-Strey: Ziel ist die Wahrheitserkenntnis, etwas "auf den Begriff zu bringen". Es ist ein oft unerkannt bleibender Fehler im Unterricht, den Schülern abstrakte Thesen oder gar Theorien einfach vorzusetzen, anstatt dass diese peu à peu aus der Anschauung und dem Konkreten heraus in der Lerngruppe entwickelt werden. In der neosokratischen Tradition hält sich der Gesprächsleiter weitgehend zurück, bringt also keine eigene Auffassung ins Spiel. Lehrer haben von ihrer Sozialisation her oft ein gegenteiliges Selbstverständnis, sie wollen etwas "beibringen" und meinen "sich durchsetzen" zu müssen. Aber die Tugend der Zurückhaltung – in der Sache und als Person – ermöglicht erst Nachdenklichkeit und ein echtes Gespräch unter den Schülerinnen und Schülern.

STANDARD: Wie sollen sich Lehrerinnen und Lehrer dabei verhalten?

Raupach-Strey: In den ersten Gesprächsphasen haben sie "Hebammenfunktion" : Sie helfen bei der "Gedankengeburt". Dann sollen sie den Perspektivenwechsel und die kritische Prüfung der vorgetragenen Gedanken anregen und fördern. Leitvorstellung ist, dass das Gespräch zu einer oder mehreren Einsichten führt, die im Konsens der Gruppe formuliert werden können – ohne das aber zu erzwingen. Den Lehrenden verlangt es einiges ab, sich auf das einzulassen, was die Schüler selber beitragen und was sich oft nicht vorhersehen lässt. Das ist viel wichtiger für einen fruchtbaren Unterricht als die Stoffhuberei. Entscheidend ist die Einstellung, gemeinsam etwas nur durch vernünftiges Nachdenken und in gegenseitiger Achtung herausbekommen zu wollen, was stimmt – "wahr ist". Sokrates nannte das den Logos-Grundsatz, Nelson sprach vom "Selbstvertrauen der Vernunft". Die Vernunft ist die einzige gemeinsame Basis, die alle Menschen trotz ihrer Unterschiedlichkeit teilen – nicht zu verwechseln mit dem IQ, sondern als Grundfähigkeit, die es zu entwickeln gilt.

STANDARD: Was ist der pädagogische Wert solcher Gespräche?

Raupach-Strey: Die Vernunft ist gewissermaßen die einzige Autorität für die Gültigkeit dessen, was wir verbindlich sagen können; kein Dogma, kein Lehrbuch, kein bestimmter Philosoph, kein Heiliger, kein Politiker. Auch Lehrer können etwas falsch verstehen oder sich irren. Wenn sie das im Unterricht zum Ausdruck bringen, werden sie viel glaubwürdiger. Nicht Belehrung, der ernsthafte Dialog ist das Medium, das die Schüler veranlasst, ihre eigenen Gedanken zu äußern und gemeinsam zu untersuchen.

STANDARD: Sie stellen die sokratische Methode in den Mittelpunkt des Ethikunterrichts. Warum?

Raupach-Strey: Das hängt mit seiner Zielsetzung zusammen. Denn auch wenn er anfangs aufgrund steigender Abmeldungen vom Religionsunterricht entstanden ist, darf er nicht als Religionsersatzunterricht für Atheisten missverstanden werden; religionskundliche Elemente sind Bestandteil aller Richtlinien für den Ethikunterricht, aber er zielt nicht auf ein Bekenntnis, sondern auf Bildung. Wir haben in der Gesellschaft eine zunehmende Pluralität von Religions- und anderen Weltanschauungsgemeinschaften, der die Konzeptionen des Ethikunterrichts Rechnung tragen wollen. Das heißt: Der Ethikunterricht hat den ethischen Minimalkonsens als gemeinsame Basis des Zusammenlebens zu erarbeiten und sollte eine Art Forum für einen fairen Diskurs unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Weltanschauungen bieten. Die erste Aufgabe mag leicht zu Indoktrination verführen. Wenn die gemeinsamen normativen Grundlagen aber an Beispielen erarbeitet und selbst eingesehen werden, werden sie ganz anders verinnerlicht als bei der Methode des erhobenen Zeigefingers. Und der ethische Minimalkonsens wäre keiner, wenn er nicht prinzipiell vernünftiger Einsicht zugänglich wäre. So gesehen sind Ängste von Lehrer- oder Politikerseite unnötig.
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 13.5.2013)